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11.02.2024Wo sind meine Erinnerungen?

Letztes Jahr erhielt ich folgende Frage von E.

Wenn Sie der Meinung sind, dass es nichts bringt, Ihr Buch zu lesen, wenn man überhaupt keine Erinnerungen hat, würde ich mich über eine kurze Rückmeldung freuen – ich bin leider im Laufe der vielen Jahre eine Perfektionistin geworden im Verdrängen, außer ‘da war mal jemand’ weiß ich nichts mehr

Es gibt viele, die als Kind ihre Mutter oder ihren Vater verloren und die nur sehr wenige, oder überhaupt keine direkten Erinnerungen an sie haben. Jedenfalls scheint das erst mal so. Erinnerungen sind nicht nur in unserem Denken gespeichert, sondern lagern auch in unserem Geist, unserer Seele, unseren Emotionen, unserem Körper. Stell dir vor, was passiert, wenn wir als Baby einen Elternteil verlieren. So jung noch, sind wir völlig offen für die Atmosphäre, in der wir sind. Wie ein Fisch im Wasser. Stirbt ein Elternteil, dann verlieren wir eine der wichtigsten Bezugspersonen. Der Körperkontakt, die Stimme, der Geruch und überhaupt die spürbare Liebe. Der übriggebliebene Elternteil versinkt in eigenem Schmerz und Sorge und ist daher auch nicht mehr so für uns da, wie vor dieser Katastrophe. Auch wenn wir nichts verstehen und nichts als Bild oder Gedanken abspeichern, unser ganzes Dasein nimmt all diese Änderungen in sich auf. Und das tragen wir völlig unbemerkt ein Leben lang mit uns.

Ein wichtiger Teil der Späte Trauer Arbeit ist, an unsere Erinnerungen heranzukommen. Sei es bewusst, halb bewusst oder völlig unbewusst. Das ist wie eine Schatzsuche. Das passiert manchmal im Austausch mit andern, in dem wir anfangen, uns in ihren Überlebensmustern wiederzuerkennen. Perfektionismus im Verdrägen ist ein Muster, dass viele von uns kennen.

11.02.2024Eine Auszeit

2023 habe ich mir eine Auszeit genommen und war viel unterwegs in den wunderbaren Alpen. Wir Spät Trauernden brauchen immer wieder die Möglichkeit, neu zu uns selbst zu finden. Jetzt im neuen Jahr 2024 kann ich mich wieder mehr um diese Webseite und unsere Kontakte kümmern. Ich freue mich!

Übrigens, beim Hochladen dieses Bildes sehe ich, dass ich meinem Papa immer ähnlicher werde (das Bild hier unter). Was für eine wunderbare Entdeckung!

02.08.2022Die Gegenwart der Liebe

Die bedingungslose Liebe und Loyalität

Die bedingungslose Liebe ist die Liebe, die nur Eltern ihren Kindern geben können. Die Loyalität ist die Liebe in Abhängigkeit, die nur Kinder zu ihren Eltern haben können. Die bedingungslose Liebe Ihrer Mutter oder Ihres Vaters verloren Sie für immer, außer vielleicht in Ihrer Erinnerung und als körperliche Erfahrung. Die Kraft Ihrer Loyalität zu Ihrer Mutter oder Ihrem Vater blieb jedoch in Ihrem tiefsten Innern verwurzelt. Sie zeigt sich nun in der Form des Vermissens. Sie empfinden ein Gefühl des Mangels. Ein immerwährendes Gefühl des Verlangens, ohne richtig deuten zu können, was dieses Verlangen wirklich ausmacht. Mit dem Verlust Ihrer Mutter oder Ihres Vaters verschwand diese Energie der Loyalität nicht. Allerdings verschwand der Empfänger dieser Bindung für immer aus Ihrem Leben.

„Ein Loch in meiner Seele“  – Titia Liese und Bert Pekelder

Du hast nicht nur ihre Liebe vermissen müssen. Du konntest sie auch nicht mehr lieben. Diese nicht löschbare Sehnsucht, die irgendwo noch immer in dir ist. Was machst du damit?

Eine Übung – Aber wie?

  • Achtung: Sollte die Beziehung zwischen dir und deiner verstorbenen Mutter oder deinem verstorbenen Vater gewalttätig oder in anderer Form stark belastend gewesen sein, dann mache diese Übung besser nicht!

Setze dich hin an einem ruhigen und sicheren Ort. Spüre deinen Körper. Folge deine Atmung. Wenn du Erfahrung mit Meditation hast, kann das hilfreich sein.

Stelle dir nun vor, deine verstorbene Mama oder dein verstorbener Papa ist bei dir. Du bist so alt, wie du jetzt bist und sie oder er ist so alt, wie sie auf dich zukommen.

Wo ist sie oder er? Vor dir, hinter dir, links oder rechts? Wie groß ist die Distanz. Oder vielleicht gibt es überhaupt keine Distanz. Nun spüre deine Brust, dein Herz, deinen Bauch. Spüre in dir deine Liebe für sie oder ihn. Lass diese Liebe größer werden und fließen. Diese Liebe verbindet euch. Vielleicht stehst du auf und umarmst und drückst sie oder ihn ganz zart oder ganz fest. Spüre, wie es sich anfühlt. Wie ihre oder seine Atmung sich anfühlt. Wie ihr oder sein Herz sich anfühlt. Spüre die Wärme. Rieche ihren oder seinen Duft. Erzählt euch, was ihr euch erzählen möchtet. Sei einfach zusammen solange ihr möchtet.

Spüre, dass sie immer bei dir sein werden. Spüre, dass du eine Mama hast, dass du einen Papa hast, die dich immer begleitet. Spüre, was sich darin für dich ändert. Wie sich das für dich anfühlt. Was das mit dir macht. Wie dich das ändert, nicht mehr alleine unterwegs zu sein.

Es ist der Neuanfang einer lebenslangen Gegenwart der Liebe!

31.07.2022

Zerrissenheit Zersplitterung Löchrigkeit  Brüchigkeit

  • Bitte achte beim Lesen auf dich. Sollte zu viel in dir aufgewühlt werden, dann mache später weiter. Überhaupt ist es sehr zu empfehlen, diese Reise nach innen zusammen mit einem guten Trauma-Therapeuten oder Therapeutin anzugehen.

Worte können eine ganz besondere Kraft in sich haben. Wenn sie zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort fallen. Sie können dann fast magisch wirken. Heute möchte ich über Worte schreiben, die im Moment in mir eine solch starke Wirkung haben: Zerrissenheit Zersplitterung Löchrigkeit Brüchigkeit. Angefangen hat es mit einem Buchabschnitt in “Endlich frei“ von Josef Giger-Bütler. Du findest den Text an Ende dieser Blogeintrag.

Ich habe in meinem Leben sehr viel gekämpft mit unlösbaren Gegensätzen. Leben bedeutet für mich ein dauerhaftes Dilemma. Kämpfe zwischen Gefühl und Denken, Körper und Geist, Kontrolle und Leidenschaft, Verpflichtung und Freiheit, Geborgenheit und Aufbruch, Offenheit und Grenzen, Hoffnung und Verzweiflung, Erstarrung und Lebendigkeit, Mut und Angst, Traum und Wirklichkeit, Nähe und Distanz. Vielleicht findest du für dich ähnliche Wortpaare.

Ich rede hier nicht von den kleinen oder auch großen „Dilemmas“, die jeder gelegentlich im Leben zu bewältigen hat. Hier geht es um einen Dauerzustand, der in unseren jungen Jahren losgetreten wurde. Die Themen mögen im Laufe der Zeit variieren, aber die Grundzerrissenheit bleibt. Diese inneren Kämpfe kosten unendlich viel Lebensenergie und Lebensfreude.

Peter E. Levine schreibt:

Trotz der inneren Zersplitterung, die ein Trauma häufig verursacht…..

Zersplitterung ist das aus einander Fallen in viele kleine Teile. Es ist die Löchrigkeit, von der ich im letzten Blog sprach. Es ist das Kämpfen mit all diesen Widersprüchen in uns. Warum diese Zersplitterung, diese Zerrissenheit? Josef Giger-Bütler beschreibt, wie wir von unserer Kindheit bestimmt wurden. Wenn unsere frühen Jahre von Brüchigkeit geprägt waren, dann wurde diese Brüchigkeit Teil unseres Selbst mit allen Überlebensmustern, die daraus entstanden sind. Obwohl er nicht explizit vom jungen Verlust der Eltern spricht, wirst du hier doch sehr viel Späte Trauer Themen wiedererkennen.

Josef Giger Bütler  „Endlich frei“ :

Brüchigkeit heißt

  • etwas, was vorher ganz war, ist gebrochen und zerbrochen. Und zerbrochen ist das Ganzheitliche, das Heile und Ganze, das nie mehr so werden kann wie vorher. Wie ein schönes Glas hat es Risse bekommen, die, wenn man sie noch so sorgfältig zukittet, bleiben. Sie erinnern an den Vorfall und zeigen, dass hier eine Schwachstelle ist, die immer anfällig bleiben wird. Es ist was kaputtgegangen, vielleicht die Unschuld, die Reinheit, die Harmonie, das Ideal.
  • dass auch das Selbstverständliche, das Grundvertrauen, die Grundsicherheit gebrochen ist, die vielleicht vorher da waren. Es ist was kaputtgemacht worden, dass man vielleicht übermalen, aber nie mehr zu dem machen kann, was es vorher war. Eine zerstörte Selbstverständlichkeit kann nie mehr zu einer neuen Selbstverständlichkeit werden. Mit dem Bruch hat sich gezeigt, dass es eine Selbstverständlichkeit gar nicht geben kann.
  • dass es einen Bruch im Ablauf, in der Zeit gibt. Was vorher war, ist nicht mehr. Es ist etwas Neues ins Leben eingetreten, das alles verändert hat.
  • dass das Gebäude Risse hat, nicht mehr überall dicht ist, gleich sicher, nicht mehr so klar abgetrennt von draußen. Das Draußen kann eindringen und vor allem auch dann, wenn man es nicht erwartet. Die Luft zum Atmen ist rauer und kälter geworden. Alles ist unsicher geworden, abhängig von draußen. Vorher war man bei sich, unabhängig und stark, jetzt ist man verletzlich und die Welt draußen ist wichtiger geworden als früher. Etwas Bedrohliches hat sich eingenistet.
  • dass sich langsam und unmerklich, still und leise etwas verändert hat. Ohne dass man es fassen oder benennen kann, hat sich das Leben gewandelt, haben sich Halt und Fundament aufgelöst, obwohl alles noch weiterläuft, wie wenn nichts wäre.
  • Wer auf brüchigem Boden steht, hat keinen wirklichen Halt, keinen festen Stand und kann nicht wirklich aufrecht stehen. Ein brüchiger Boden ist eine unsichere und wacklige Unterlage, die nicht erlaubt, fest auf den Boden zu stehen, einen eigenen Standpunkt zu finden und Widerstand zu leisten. Ein Kind, das sein Umfeld als unberechenbar und brüchig erlebt, kann keine Sicherheit fürs Leben, für sich und in sich aufbauen, erlebt sich allein und auf sich gestellt.

Wenn du es auch nur für einen kurzen Moment schaffst, deine Aufmerksamkeit diesen einzelnen „Dilemmas“ zu entziehen und einen Schritt zurück tritts, dann kann etwas Wunderbares passieren. Du kannst mit deinem Herzen die Zerrissenheit in dir als Ganzes wahrnehmen. Daraus kann eine große Milde, eine Barmherzigkeit für deine eigene Seele entstehen. Es ist nicht deiner Unfähigkeit geschuldet, dass du die Dinge nicht zusammen kriegst. Du bist kein Versager, nicht dumm oder schwach. Es hat einen Grund, warum du so bist, wie du bist. Dieses Erbarmen mit dir selbst ist der Anfang deiner Selbstheilung! Dieser Prozess ist wie ein Pendel. Du bewegst dich immer hin und her zwischen großer Zerbrechlichkeit und tiefer Selbstliebe. Das ist okay. Das darfst du.

11.07.2022

Unsere Selbstheilung

Unsere Selbstheilung gleicht einem verschollenen Pfad in einer verwunschenen Wildnis. Sie ist dem Weg von Hänsel und Gretel, der Odyssee von Odysseus oder der großen Liebe ähnlich. Die Umstände jagen uns fort und wir wissen nicht, was wir begegnen werden. Wir wissen nicht, ob und wann wir jemals wieder hinaus finden. Wir wissen nicht, wo das sein wird und ob die Welt, die wir dann vorfinden, noch die gleiche ist. Und wir wissen vor allem nicht, wer und wie wir dann selbst sind. Das beunruhigt vielleicht noch am meisten.

Diese folgende Geschichte gärt in mir schon seit über einem halben Jahr. Heute wurde mir auf einmal klar, wie ich sie erzählen könnte und das mache ich hiermit.

Ein Zuhause für mich

Wenn es passt, nehme ich mir die Freiheit, auch mich selbst mit meinen Erfahrungen und Problemen in die Seminare einzubringen. Ich bin kein Therapeut, also darf ich das, glaube ich. Im Seminar in November 2021 passierte dabei mit mir etwas völlig unerwartetes. Ich erzählte von der Pflegefamilie, in der mein kleiner Bruder (14) und ich (16) untergebracht wurden, nachdem unsere Mutter verstarb. Es stellte sich heraus, dass diese Familie für dieses „Unternehmen“ völlig ungeeignet war. Das Ehepaar wohnte mit ihren zwei eigenen Kindern in einem engen Reihenhaus und hatte selbst versteckte psychische Probleme. Vor allem der Vater war fanatisch religiös und es kam nach fast 2 Jahren seelischer auch zu körperlicher Gewalt. Die Folgen haben mich sehr geprägt.

Monika, eine Teilnehmerin, die selbst zwei Jungs adoptiert hat, reagierte auf meine Geschichte spontan und völlig unbedarft: „Oh aber heutzutage würde man so was nie mehr so machen. Kinder in eurem Alter haben sich schon viel zu weit entwickelt. Eine Aufnahme in einer Pflegefamilie funktioniert dann einfach nicht mehr. Sie können heute selbständig wohnen und werden dabei betreut.“

Das löste in mir eine Kaskade an Möglichkeiten, Gefühlen und Bildern aus: Es gab also eine Erklärung für das, was passiert war. Es war zu erwarten gewesen. Wie anders hätte mein Leben und das meines kleinen Bruders verlaufen können? Wie hätten wir uns dann anders entwickeln können? Wie hätten wir dann gemeinsam unsere Trauer verarbeiten können? Wie…. wie…. wie…. wie…. wie…. wie…. wie…. wie…. ?

Kurz nach dem Seminar öffnete sich in meiner Fantasie eine alternative Vergangenheit. Ich fing an, eine gemeinsame Wohnung für mich und meinen kleinen Bruder Oscar einzurichten. Ich stellte mir das Haus vor. Ich stellte mir vor, wie beschützt wir dort hätten sein können. Wie wir dort gemeinsam frei sein konnten. Wie wir miteinander sprachen. Wie ich Oscar erzählte, dass wir es zusammen schaffen würden und ich immer für ihn da sein würde und er für mich. Ich fing an, als erwachsene dritte Person mit uns beiden zu reden, mich um uns beide zu kümmern. Die Vergangenheit löste sich aus einer Erstarrung und verwandelte sich und damit auch ich selbst.

Vor 4 Monaten kam dann dazu, dass ich vorerst wieder alleine wohne und mir war sofort klar, dass dieser innere Prozess in der Wirklichkeit ankam. Ich fing an, mich um mich selbst zu kümmern, so wie ich das zuvor in meiner Vision angefangen hatte. Ich spürte körperlich, wie alte Erstarrungen in Bewegung kamen und das tun sie auch jetzt weiter. Alte Gefühle zeigen sich dabei mit großer Heftigkeit. Auf einmal bin ich nicht mehr Außenseiter und Beobachter meiner Vision, sondern wirklich mitten im dunklen Wald ausgesetzt. Ich versuche dort meinen Weg zu finden und es tut bei Weile höllisch weh. Ein Sturm versetzt die Bäume in Unruhe. Wirbelt alles auf. Peter A. Levine erzählt in seinem Buch „Trauma-Heilung“, wie wichtig es dabei ist, seinen eigenen Körper von innen aus zu spüren und das hilft tatsächlich. Ich jogge und schwimme so viel, wie noch nie zuvor.

Langsam verschiebt sich meine Orientierung von dort, wo ich herkomme aus der Vergangenheit, hinein in die Gegenwart in den Wald und in die Schritten, die ich auf diesem Pfad jetzt mache. Schritt für Schritt. Manchmal ist es auch eher ein Ödnis, ein Hochgebirge, Treibsand, ein Fakirbett, ein Schiff umringt von Sirenen. Ich bin nicht alleine, aber diesen Weg muss ich schon selbst gehen und ich werde mir schmerzhaft bewusst, wie löchrig und unvollständig mein inneres Selbst ist. Wie sehr ich bisher andere gesucht habe, die mir diese Löcher stopfen. Wie sehr ich immer auf anderen gebaut habe, um diese Unvollständigkeit zu kompensieren. Und heute wurde mir auf einmal klar: Diese Wohnung, die ich für mich und meinen Bruder einrichte, das bin ich selbst. Sie ist eigentlich mein eigenes Selbst, das geheilt und vollständig werden will. Ich bin das Haus! Ich bin die Wildnis! Und ich bin sehr gespannt, was mir als nächstes begegnet!

Peter A. Levine: Trauma-Heilung – Das Erwachen des Tigers

Joseph Campbell: Der Heros in tausend Gestalten

27.03.2022

Beim Seminar im vergangenen November in Jüterbog spürten wir fast augenblicklich ein sehr großes gegenseitiges Vertrauen. Eine Teilnehmerin hat ihre Erfahrungen aufgeschrieben und mir erlaubt, sie hier weiterzugeben. Ich mache das sehr, sehr gerne und ungekürzt, weil ihr Text soviel Wertvolles enthält:

Entdeckungen

Es war Balsam für mich, so sympathische Menschen zu treffen, zu denen ich von Anfang an ein Gefühl der Verbundenheit empfand. Obwohl das Schicksal bei uns allen völlig unterschiedlich zugeschlagen hatte, fühlten wir während des Seminars eine große Vertrautheit.

Mein Vater starb nach kurzer, schwerer Krankheit, als ich 14 Jahre alt war. Mit 14 ist man ja schon groß und versteht, wieso und was passiert und man muss stark sein und die Mutter unterstützen – so habe ich das mein Leben lang erfahren, geglaubt und gelebt. Mich hat nach dem Tod meines Vaters nie jemand gefragt, wie es mir denn geht. Nein, meine Mutter war die arme Witwe und mein Bruder und ich die Kinder, die sich nun um die Mutter kümmern.

Kurze Zeit nach dem Tod meines Vaters, im Frühsommer, begann für meine Schulfreunde*innen und mich der erste große Sommer. Ich hing immer dazwischen, auf der einen Seite eine neue Welt, jung, frei sein, Spaß haben, Party… Und dann die andere Welt: meine Mutter in einem tiefen Abgrund, mein Elternhaus, mein Bruder, selbst der Garten, alles abgründig, verletzt, grau verhangen und sprachlos.

Ich glaube, ich kann bis heute nicht Spaß am Leben haben ohne schlechtes Gewissen, dass ich Spaß habe. Keiner weiß das, ich kann das gut verbergen. Aber ich hab manchmal sehr große Schmerzen.

In meiner Nachbarschaft befindet sich ein wunderschöner kleiner Park, mit einem wunderschönem kleinen Schloss und Schlossteich. Ich hab vor einiger Zeit ein Bild gemalt: Es ist Winter, der See ist zugefroren. Ich liege unter dem Eis und schaue zu, wie die anderen schwerelos Schlittschuh laufen.

Es ist mir peinlich, dass ich jetzt, fast 40 Jahre später, immer noch zurückfalle.

Im Seminar hatte ich das erste Mal das Gefühl, die anderen wissen, was ich meine. Und das ist tröstlich. Ich war in der Tat froh, im Seminar zu hören, dass offensichtlich, wenn ein Elternteil stirbt, nicht nur dieses Elternteil fehlt, sondern das ganze Gerüst Familie zusammenbricht. So war es bei uns. Und ich hab mich mein Leben lang angestrengt und gekämpft, es so aussehen zu lassen, als ob wir alles im Griff haben und wir toll sind. Das hat mir Energie und Kraft geraubt. In meinem eigenen Leben war ich oft mit „angezogener Handbremse“ unterwegs.

Im Seminar sprachen wir darüber, dass es Trauer nicht in Kindergröße gibt. So ist es!

Kurze Zeit nach dem Seminar starb meine Mutter. Es belastet mich, dass wir konfliktgeladen auseinandergegangen sind. Trotzdem verspüre ich Trauer. Und ich hatte das Gefühl, ich darf Trauer spüren, ich darf ganz plötzlich traurig sein und sie vermissen. Das sind für mich völlig neue Erfahrungen. Ich hatte sie nicht, als mein Vater starb. Ich hab sie nie zugelassen. Und jetzt, nachdem ich das Gefühl Trauer kenne, weiß ich, dass es wirklich zu groß ist, selbst für 14-Jährige. Das kann man nicht allein. Beim Tod meiner Mutter hatte ich auch das Gefühl, die Außenwelt versteht und akzeptiert die Trauer und als Trauernde kann ich mich da etwas tragen lassen. Das ist recht angenehm. Das hab ich beim Tod meines Vaters nicht erlebt. Da war ich einfach nur das Kind.

04.01.2022

Manchmal bin ich der Verzweiflung nahe, doch gerade dann kommt mir der Gedanke, dass es auch diesen Tag nur einmal gibt in meinem Leben.

Eva von Tiele-Wickler, 1866 – 1930, Gründerin der diakonischen Einrichtung Friedenshort. 14 Jahre alt, als ihre Mutter starb.

Das, was uns besonders macht

Erwachsene, die als Kind Eltern verloren, sind besondere Menschen. Auch Du! Du musstest als Kind Strategien zum Überleben entwickeln. In ´Ein Loch in meiner Seele´ kannst Du darüber viel mehr lesen. Diese Überlebensmuster empfinden wir oftmals als eine Last. Tatsächlich können sie uns als Erwachsene in vielerlei Hinsicht behindern. Es ist jedoch enorm wichtig, zu verstehen, dass in diesen Mustern auch unsere ganz eigene und ganz besonderen Qualitäten verborgen liegen. Sobald wir anfangen, uns selbst, so wie wir sind, zu verstehen und anzunehmen, können diese verborgenen Eigenschaften unserem Leben eine neue Richtung geben.

Im September 1890 zieht Eva von Tiele-Winckler in das neuerbaute Haus „Friedenshort“. Das kleine Haus füllt sich schnell mit versorgungsbedürftigen Kindern und kranken und alten Menschen aus der Umgebung, die alle Hilfe brauchen. Rasch bürgert sich der Name „Mutter Eva“ für die junge, erst 23-jährige Eva von Tiele-Winckler ein, ein Ausdruck von Dankbarkeit und Respekt der Dorfbevölkerung. 

1900 übernimmt sie die Leitung des Friedenshortwerkes und der Schwesternschaft. Eine Besonderheit ihrer Arbeit sind die sogenannten Kinderheimaten. In ihnen leben Diakonissen und Mitarbeiterinnen mit „ihren Kindern“ in kleinen, familienähnlichen Gruppen. Jungen und Mädchen unterschiedlicher Altersstufen ein Zuhause mit festen Bezugspersonen zu geben – das ist erklärtes Konzept und gelebte pädagogische Wirklichkeit. Zugleich finden sich immer mehr Freundinnen und Freunde des Werkes. Viele diese Menschen übernehmen eine Patenschaft für eines der Kinder und begleiten es oft ein Leben lang. Weil sie den Kindern wie ein Stern Licht geben, nennt Eva von Tiele-Winckler den Zusammenschluss der Paten „Sternenbund“.

1913 gründet Eva die „Heimat für Heimatlose GmbH“, ein Zusammenschluss der bis dahin entstandenen 42 Kinderheimaten und weltweit die erste GmbH im Bereich der Diakonie. Durch ausgedehnte Reisetätigkeit wächst die Bekanntheit von Eva von Tiele-Winckler und ihrer Arbeit. Zahlreiche Kontakte im In- und Ausland entstehen und vertiefen sich, die Schwesternschaft wächst. Neben die Arbeit in der Kinder- und Jugendhilfe tritt die Gefangenen-Seelsorge in Deutschland und vor allem die Arbeit der äußeren Mission. 1912 reisen die ersten Diakonissen nach China, ein Arbeitsfeld, auf den bis zur Ausweisung 1951 Friedenshort-Diakonissen Dienst tun. Auch in Norwegen, Indien, Ägypten, Guatemala, Syrien und auf den Samoa-Inseln gibt es Friedenshort-Missionarinnen.

 

Zitat aus www.friedenshort.de

 

11.12.2021Das Schloss, das ich bin.

Nach dem Tod  unserer Eltern sehnten wir uns als Kind nach Liebe und Angenommensein. Um das zu erreichen, haben wir uns in sehr vielen Bereichen unseres jungen Lebens angepasst. John Welwood benutzt die Analogie eines Schlosses, um zu illustrieren, was das mit uns gemacht hat. Ich liebe diesen Text und lese ihn über die Jahre immer und immer wieder. Vielleicht findet Ihr beim Lesen auch Inspiration, Euch in dieser Weihnachtszeit vor dem neuen Jahr auf eine innere Entdeckungsreise zu begeben und eigene vergessene Räume zu entdecken:

Stellen Sie sich vor, dass sie ein prachtvolles Schloss sind, mit langen Fluren und Tausenden von Zimmern. Jedes Zimmer im Schloss ist vollkommen und enthält ein besonderes Geschenk. Jedes Zimmer stellt einen anderen Aspekt von Ihnen dar und ist ein integraler Bestandteil dieses vollkommenen Schlosses. Als Kind haben Sie jeden Zentimeter Ihres Schlosses erforscht, ohne Scham und ohne zu urteilen. Furchtlos haben Sie in jedem Zimmer nach seinen Edelsteinen und seinem Geheimnis gesucht. Alle Räume gehören dazu, die Abstellkammer, das Schlafzimmer, die Toilette und der Keller. Jedes Zimmer war einzigartig. Das Schloss war voller Licht und Liebe, und Sie staunten über die Fülle. Dann kam eines Tages jemand in Ihr Schloss, der sagte, dass mit einem Zimmer etwas nicht in Ordnung sei, es gehöre sicherlich gar nicht zum Schloss. Er machte den Vorschlag, dass Sie die Tür zu diesem Zimmer verschließen sollten, falls Sie ein perfektes Schloss haben wollten. Da Sie sich nach Liebe und Angenommensein sehnten, schlossen Sie diesen Raum schnell zu. Im Laufe der Jahre kamen immer mehr Leute in Ihr Schloss. Sie ließen Sie wissen, welche Zimmer sie mochten und welche nicht. Und allmählich schlossen Sie eine Tür nach der anderen zu. Die Wunderbaren Räume wurden abgesperrt und der Dunkelheit überlassen. Ein Kreislauf hatte begonnen.

Seitdem haben Sie immer mehr Türen aus den verschiedensten Gründen verschlossen, weil Sie Angst hatten oder weil Sie glaubten, ein Zimmer wäre zu auffallend. Sie schlossen Räume, weil sie zu konservativ waren oder weil andere Schlösser kein solches Zimmer besaßen. Sie schlossen Türen, weil Ihnen religiöse Autoritäten gesagt haben, solche Zimmer dürften Sie nicht betreten. Sie machten die Tür zu jedem Raum zu, der nicht den Normen der Gesellschaft oder Ihrem eigenen Ideal entsprach.

Die Tage waren vorüber, als Ihr Schloss grenzenlos zu sein schien und die Zukunft aufregend und hell. Sie kümmerten sich nicht mehr mit der gleichen Liebe und Bewunderung um jedes Zimmer. Räume, auf die Sie einmal stolz gewesen waren, mussten jetzt verschwinden. Sie wollten diese Zimmer irgendwie loswerden, aber sie gehörten ja zu ihrem Schloss. Nachdem Sie nun die Türen zu allen Zimmern verschlossen hatten, die Sie nicht mochten, vergaßen Sie im Laufe der Zeit, dass diese Räume überhaupt existierten. Am Anfang merkten Sie gar nicht, was Sie da taten. Es wurde einfach eine Gewohnheit. Da Sie von aller Welt Botschaften bekamen, wie ein richtiges Schloss auszusehen habe, wurde es viel leichter, auf sie zu hören, als Ihrer eigenen inneren Stimme zu vertrauen, die Ihr ganzes Schloss liebte. Diese Zimmer zu verschließen, gab Ihnen ein Gefühl der Sicherheit. Es dauerte nicht lange, und Sie stellten fest, dass Sie nur in einigen wenigen Räumen lebten. Sie hatten gelernt, wie man das Leben ausschließen konnte, und richteten sich bequem darin ein. Viele von uns haben so viele Zimmer verschlossen, dass wir vergessen haben, einst ein Schloss bewohnt zu haben. Wir begannen zu glauben, wir seien ein kleines, reparaturbedürftiges Haus mit zwei Zimmern.

Stellen Sie sich nun vor, dass Sie in Ihrem Schloss alles beherbergen, was Sie sind, das Gute und das Schlechte, und dass jeder Aspekt, der auf diesem Planeten existiert, auch in Ihnen existiert. Ein Zimmer ist Liebe, ein anderes Mut, eines ist Eleganz, ein anderes Anmut. Es gibt endlos viele Zimmer: Kreativität, Weiblichkeit, Ehrlichkeit, Integrität, Gesundheit, Selbstbehauptung, sexuelle Anziehung, Kraft, Schüchternheit, Hass, Gier, Frigidität, Faulheit, Arroganz, Krankheit und Bosheit. Sie alle sind Zimmer in Ihrem Schloss. Jeder Raum ist ein Teil des Gebäudes und hat irgendwo im Schloss ein Gegenstück. Glücklicherweise sind wir nie zufrieden, wenn wir weniger sind, als wir sein können. Unsere Unzufriedenheit mit uns selbst motiviert uns, nach all diesen verlorenen Zimmern in unserem Schloss zu suchen. Wir können nur dann den Schlüssel zu unserer Einzigartigkeit finden, wenn wir alle Zimmer im Schloss aufsperren.

Das Schloss ist eine Metapher, die Ihnen Ihre eigene Größe begreiflich machen soll. Wir alle haben diesen heiligen Ort in uns. Wir finden leicht Zugang, wenn wir bereit und willens sind, uns selbst in unserer Totalität wahrzunehmen. Die meisten von uns fürchten sich vor dem, was sie vielleicht hinter den verschlossenen Türen finden könnten. Anstatt uns auf das aufregende Abenteuer einzulassen, die verborgenen Aspekte unseres Selbst zu finden, tun wir lieber so, als würden diese Zimmer gar nicht existieren. Der Kreislauf geht weiter. Aber wenn Sie die Richtung Ihres Lebens wirklich ändern wollen, müssen Sie Ihr Schloss betreten und langsam einen Ra um nach dem anderen öffnen. Sie müssen Ihr inneres Universum erforschen und alles wieder in Ihren Besitz bringen, was Sie von sich weggegeben haben. Nur in der Gegenwart aller Aspekte Ihres Selbst können Sie Ihre eigene Größe erkennen und sich an der Totalität und Einzigartigkeit ihres Lebens freuen.

Aus: Debbie Ford – Schattenarbeit – Wachstum durch die Integration unserer dunklen Seite. Goldmann Verlag 2011

 

20.11.2021Späte Trauer und Selbstregulation

Immer unter Strom oder wie gelähmt, apathisch oder hyperaktiv, zurückgezogen oder überschwänglich, voller Angst oder voller (Hoch)Mut, verunsichert oder überheblich, voller Empathie oder arrogant, Vertrauen oder Misstrauen, Kopf oder Gefühl …

Warum fallen wir Spät-Trauernde so oft in Extreme? Warum geraten wir so schnell aus dem Gleichgewicht? Warum überschreiten wir Grenzen oder bleiben gefangen in der Mitte?

Ich habe in meinem Leben sehr viel Wissen über mich selbst gesammelt und meinte immer, dass ich mich selbst sehr gut verstehe. Warum ist es mir dann doch immer so sehr schwer gefallen, glücklich zu leben?

Dami Charf schreibt die Fähigkeit, glücklich zu sein, der Fähigkeit zu, uns selbst zu regulieren.

Diese Selbstregulation ist:

die Fähigkeit, sich bei emotionalem Aufruhr selbst zu beruhigen,

die Fähigkeit, sich zu erholen und zu entspannen,

die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit auszurichten und zu halten,

die Fähigkeit, Impulse zu fühlen, zu kontrollieren und gegebenenfalls zurückzustellen,

die Fähigkeit, mit Frustrationen umzugehen,

die Fähigkeit, Absichten zu verwirklichen und Ziele zu verfolgen,

die Fähigkeit, Freude zu empfinden und die Welt erkunden zu wollen,

die Fähigkeit, eine Pause zwischen Reiz und Reaktion zu machen.

Es ist diese Fähigkeit zur Selbstregulation, die unser Leben schön oder anstrengend macht.

 ´Auch alte Wunden können heilen´, Dami Charf, Kösel-Verlag, München, 2018.

Warum kämpfen viele Spät-Trauernde so mit diesen Themen? Warum fällt es uns oft so schwer, glücklich zu sein? Fehlt uns die Mitte?

Selbstregulation lernen wir als Kind in der Resonanz oder Spiegelung mit unseren Eltern. Sie bieten uns die sichere (Co-)Regulation in einem Alter, in dem wir diese selbst noch nicht haben. Wenn wir aus dem Gleichgewicht geraten, dann sind es unsere Eltern, die uns Ruhe, Halt und Ausgleich geben, dadurch, dass wir buchstäblich gehalten werden. So lernen wir über die Jahre hinweg, uns selbst zu beruhigen, uns selbst zu regulieren, uns selbst zu halten. Wir lernen zu vertrauen, dass es nach einem Tiefpunkt auch wieder anders wird. Und dass Höhepunkte auch mal wieder weniger hoch werden. Der Verlust eines Elternteils nimmt uns einen großen Teil dieser Möglichkeit, das zu erlernen. Und das in einer extrem traumatischen Situation, in der wir, wie nie zuvor, Halt, Beruhigung, Vertrauen und Trost brauchten.

Dazu kommt, dass bei vielen von uns Spät-Trauernden unser Nervensystem als Folge des Todes unserer Mutter, unseres Vaters oder unserer beider Eltern völlig aus den Fugen geraten ist. Dadurch ist unser Toleranzfenster, der Bereich in dem wir uns wohlfühlen, in dem wir uns zu regulieren wissen, in dem wir uns ausgleichen können, oftmals sehr eng geworden.

Nicht zuletzt haben wir als Waise lernen müssen, uns anzupassen, uns selbst nicht zu beachten. Wir mussten uns auf (vermeintliche) Impulse von außen disziplinieren, unsere Impulse von Innen verdrängen und unterdrücken. Statt uns selbst zu halten, hielten wir uns zurück. Diese Art von Selbstregulation ist auf Dauer selbstzerstörerisch. Sie grenzt unsere Seele ein, deformiert sie, nimmt ihr die Chance, zu experimentieren und dadurch zu wachsen.

Diese fehlgeleitete Regulation dürfen wir ablegen. Klar, das ist ein mühsamer und langsamer Weg. Erst wenn diese Regulation für uns selbst transparenter wird und anfängt, sich aufzulösen, entsteht Raum für eine echte Selbstregulation. Diese schafft unserer Seele Platz zum Atmen und unsere Seele hat nur das Beste mit uns vor. Wir können lernen, auf uns selbst zu hören, uns selbst zu spüren und die wahre Regulation zu entdecken. Diese ermöglicht es uns, für uns zu sorgen, uns wohl zu fühlen, unseren eigenen Weg zu gehen und Freude an uns selbst, an Anderen und an unserem Leben zu finden.

17.10.2021Unsere Daseinsberechtigung

Ab dem zweiten Tag im Späte Trauer Seminar sprechen wir auch über die Spätfolgen unseres jungen Elternverlusts. Ein sehr wichtiges Thema ist dann Selbstvertrauen. Viele, sehr viele Spät-Trauernde erkennen sich wieder in ihrem tiefen Zweifel an der eigenen Daseinsberechtigung. In der Bindung zu unseren Eltern lernen wir als Kind diese wichtige Lebensgrundlage. Der Verlust unserer Mutter, unseres Vaters oder sogar unserer beiden Eltern war eine Ruptur in unserem Kind-Sein und in unserer Entwicklung. Wir haben uns viel zu früh angepasst. Wir haben angefangen, uns verantwortlich zu fühlen und zu sorgen für andere. Für unsere Geschwister, für unseren zurückgebliebenen Elternteil, für unsere Umwelt (so wie diese durch den Tod entstand). Damit haben wir versucht, unsere eigene Daseinsberechtigung zu “verdienen“. Und das tun wir im Erwachsenenalter noch immer.

Aber deine Daseinsberechtigung bekommst du nicht aus der Tatsache heraus, dass du dich anpasst. Deine Daseinsberechtigung bekommst du nicht aus der Tatsache heraus, dass du für etwas sorgst. Deine Daseinsberechtigung bekommst du aus der Tatsache heraus, dass es dich gibt!

Josef Giger-Bütler schreibt in Jetzt geht es um mich (siehe auch meinen Blog vom 01.08.2019)

Ich will einen Weg gehen, der sich für mich gut anfühlt und der dorthin führt, wo ich spüre, dass es für mich stimmt. Ich will mir bei jedem Schritt und jeder Entscheidung die Bedeutung geben, die mir zusteht…..

Ich will das Leben leben, das ich als lebenswert betrachte…..

Ich will spüren, wichtig zu sein, und dorthin gehen, wo ich mich frei und unabhängig fühle.

Ich will so leben, dass es mit meinen Bildern und Wünschen von einem selbstbestimmten und frei gewählten Leben übereinstimmt.

Ich möchte einen Weg gehen, der mich zufrieden macht.

Ich möchte mich einmal gut fühlen können und stolz sagen können: Ja, das bin ich und es ist gut so, wie ich bin.

Ich möchte mein Leben und nicht das der andern führen, mich ins Zentrum stellen und nicht immer nur meinen, die Erwartungen der anderen erfüllen zu müssen.

Ich möchte nicht mehr nur froh sein, wenn ich wieder einen Tag hinter mich gebracht habe, wenn die Kräfte für diesen Tag gereicht haben.

Ich allein weiß, was im Moment möglich ist und was nicht, wie belastbar und risikofreudig ich bin. Ich nehme mir Zeit, setze mich nicht unter Druck und mache wirklich nur das, was mir im Moment möglich ist. Was ich mir immer und immer wieder vor Augen führen und mir sagen will: Geduld, Geduld und nochmals Geduld – eines nach dem andern.

 

Weitere Infos unter SEMINARE

03.10.2021Caspar David Friedrich, 1774-1840, Maler der Frühromantik

Wiedererkennung

Als ich das hier las und das Bild sah (auf Facebook), dachte ich sofort: diese Wiedererkennung…….. könnte es sein, dass ………. das wäre doch zu krass…………

Schnell im Internet nachgeschaut und Bingo! Caspar David Friedrich verlor seine Mutter, als er 6 Jahre alt war. Ist es nicht erstaunlich, wie oft wir Spät-Trauernde uns in unseren (Über-)Lebensmustern so ähnlich sind?

 

18.07.2021

Spiegelungen

Wenn wir als neuer Mensch auf diese Welt kommen, dann haben wir noch kein eigenes Selbst. Wir fühlen nur. Unser Selbst und unsere Grundstruktur entstehen erst allmählich in der Wechselwirkung mit unseren Bezugspersonen. Joachim Bauer schreibt in seinem Buch ´Wie wir werden, wer wir sind´:

An der Komposition des Selbst sind Resonanzvorgänge beteiligt, wie sie sich zum Beispiel zwischen zwei Gitarren beobachten lassen: So, wie der Klang der einen Gitarre die Saiten einer zweiten Gitarre zum Klingen bringen kann, so können Bezugspersonen ihre inneren Melodien – ihre Art zu fühlen, die Welt zu deuten und in ihr zu handeln – via Resonanz auf den Säugling übertragen.

Für mich ist das Wort Resonanz zwar richtig, aber hier fast zu technisch. Ich sehe eine Klangschale vor mir, in der der Klang das Wasser in Bewegung bringt. Ich denke an Spiegelungen, an klare und oftmals auch verzerrte Bilder. Für mich ist dieses Bild umso poetischer.

Was passiert mit uns, wenn in so jungem Alter eine unserer wichtigsten Bezugspersonen stirbt? Unsere Mutter, unser Vater, oder sogar beide Eltern? Erschreckend plötzlich ist sie oder er nicht mehr da. Dort, wo ein ganz wichtiger Spiegel war, in dem unser Selbst gerade angefangen hatte, sich selbst zu entdecken, zu komponieren, ist nur noch eine eiskalte Leere. Ein Teil unseres Selbst kann sich nicht weiter gestalten, kommt nicht zur Festigkeit, zur Form. In der tief innerlichen Verwirrung bleibt diese Lücke. Oftmals ein Leben lang. Darum haben viele Spät-Trauernde das unbestimmte Gefühl, dass etwas mit ihnen nicht stimmt. Dass sie anders sind als andere. Dass sie immer wieder versuchen, ihr Leben zu gestalten, aber dass ihnen dazu etwas fehlt. Dass sie vieles probieren, aber dass es ihnen nicht gelingt. Dass sie irgendwie nicht gut genug sind für diese Welt. Sie finden in der Mitte ihres – oftmals rastlosen Lebens – keinen Kern, keine Festigkeit. Wo diese innere Festigkeit fehlt, kann auch keine äußere Festigkeit entstehen. Für Außenstehende ist das oftmals überhaupt nicht sichtbar. Das macht Spät-Trauernde noch viel einsamer.

Joachim Bauer schreibt jedoch auch, dass diese Spiegelung sich lebenslang fortsetzt. Unser Selbst, unsere Seele ist eine nie endende Komposition aus vielen Themen und Melodien. Wir haben bei unserer Geburt eine wunderbare innere Wachstumskraft geschenkt bekommen, eine Fähigkeit zur Selbstheilung, eine innere Weisheit. Wenn wir anfangen, zu erforschen, was damals mit uns passiert ist, was der Tod unserer Eltern mit uns gemacht hat, wie wir dadurch geworden sind, was wir jetzt sind. Wenn wir anfangen, neu zu spüren, neu zu verstehen, dann ist es möglich, in uns selbst Frieden zu finden. Dann kann eine bis dahin nie gekannte Festigkeit unseres Selbst, unsere Seele wachsen. Dieser Weg führt zuerst zurück in die Vergangenheit. In dieser Vergangenheit begegnen uns auch Schmerz, Trauer und Angst. Darum ist es so wertvoll, diesen Weg nicht alleine zu gehen, sondern mit anderen, die diesen Weg auch gegangen sind und noch gehen. Es lohnt sich! Dafür ist es ist nie zu spät!

Die Späte Trauer Seminare geben Dir diese Möglichkeit. Ich lade Dich herzlichst zu dem Termin am ersten Oktoberwochenende in Friedrichsrode ein. Mehr dazu findest Du unter: Seminare.

 

04.05.2021

Wer immer nur funktioniert, entzieht sich dem Abenteuer des Lebens.

Armin Mueller-Stahl, 1930 – , Schauspieler, Schriftsteller, Maler. 15 Jahre alt, als er seinen Vater verlor.

Anpassen und Ausbrechen

Eines der großen Themen von Spät-Trauernden ist das Anpassen. Wir, die Spät-Trauernden, haben uns nach dem Verlust unserer Mutter, unseres Vaters einer Situation angepasst, die für uns nicht mehr richtig war. Die für uns nicht mehr stimmte. Wir haben uns einer Situation angepasst, die nicht mehr so war, wie vor dem Verlust.

Nach dem Sterben Ihrer Mutter, Ihres Vaters oder Ihrer beiden Eltern ist in Ihrer Herkunftsfamilie ein Loch entstanden. Wer auch immer den Platz Ihrer Mutter, Ihres Vaters eingenommen hat (wenn das denn überhaupt möglich gewesen wäre…). Ihr Leben hatte sich für immer geändert. Sie bekamen nicht mehr die Umsorgung Ihrer Mutter, Ihres Vaters, die es vor ihrem oder seinem Sterben gab. Nicht mehr ihre oder seine Aufmerksamkeit. Nicht mehr ihre oder seine bedingungslose Liebe. Nicht mehr ihre oder seine Kultur. Nicht mehr ihre oder seine Erziehung. Ab dem Moment fehlte Ihre Mutter, Ihr Vater. Ihr Leben hatte sich für immer verändert. Und Sie passten sich an. Sie passten sich so recht und schlecht wie möglich an. Sie passten sich an eine Situation an, die für Ihre Entwicklung nicht mehr optimal war. Sie machten immer so weiter. Sie haben sich immer weiter angepasst.

Noch immer passen Sie sich scheinbar mühelos an. Aber innerlich sind Sie zornig. Zornig darüber, was Sie tun mussten. Zornig darüber, was Sie tun. Oder darüber, was Sie nicht tun. Sie passen sich an, bis das Maß voll ist. Und dann auf einmal brechen Sie aus. Und Sie spucken Feuer mit einer Wut, die dem Anlass nicht angemessen ist.

Aus: ´Ein Loch in meiner Seele – Späte Trauer bei Erwachsenen, die im jungen Alter ihre Eltern verloren haben´ Titia Liese und Bert Pekelder

 

28.02.2021

Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich; unglücklich ist jede Familie auf ihre eigene Art.

Lew Tolstoi, 1828–1910, Autor. 2 Jahre alt, als er seine Mutter verlor, 9 Jahre alt, als sein Vater verstarb.

Aufwachsen im Schatten der Sucht

Gestern sprach ich mit einer Spät-Trauernden. Einer Frau von Ende dreißig. Sie wuchs im Schatten der Sucht auf. Als sie gerade siebzehn Jahre alt war, starb unerwartet ihre Mutter. Ihre Herkunftsfamilie bestand zu der Zeit aus ihrer Mutter, ihrem Vater, der Spät-Trauernden, mit der ich gestern sprach, einem Brüderchen und zwei Schwesterchen. Sie war das älteste Kind in der Familie. Der Vater war oft außer Haus. Die Mutter war Hausfrau und schwerst Alkoholikerin.

Als sie ungefähr zwölf war, wurde ihr bewusst, dass der alltägliche Ablauf bei ihr zu Hause nicht normal war. Dass es nicht normal war, dass sie immer für ihr jüngeres Brüderchen und ihre zwei jüngeren Schwesterchen sorgte. Dass sie immer kochte. Die Wäsche machte. Dass es nicht normal war, dass sie ihre Mutter immer schonte. Sie pflegte, wenn sie mal wieder krank im Bett lag. Bis ihre Mutter plötzlich stirbt. Schrecken. Erleichterung. Scham. Das immerwährende Gefühl des Versagens. Eine Trauer, die ganz tief versteckt ist.

Das Leben ging weiter. Ihr Vater fand schnell eine neue Frau. Sie selbst heiratete jung und konnte so ihrem Elternhaus entkommen. Sie wurde Mutter dreier Kinder. Ein Mädchen, ein Junge, ein Mädchen. Als eine ihrer Töchter anfing zu pubertieren, fuhr sich die Beziehung zwischen Mutter und Tochter fest. Bis sie beide weder ein noch aus wussten.

Dann liest sie über späte Trauer. Zu Beginn ihrer Pubertät wurde ihr bewusst, dass ihr Leben als Kind nicht normal verlief. Sie konnte sich diesem Leben jedoch nicht entziehen. Sie passte sich an. Nachdem sie über späte Trauer gelesen hatte, erkannte sie: das hier geht über mich! Als erwachsene Frau sieht sie jetzt die tiefen Auswirkungen auf ihr heutiges Leben. Das Aufwachsen im Schatten der Sucht ihrer Mutter. Die Folgen für ihre eigene Mutterschaft. ´Ich möchte meiner Tochter nicht meine Muster weitergeben. Ich werde daran arbeiten.´

Aus: ´Ein Loch in meiner Seele – Späte Trauer bei Erwachsenen, die im jungen Alter ihre Eltern verloren haben´ Titia Liese und Bert Pekelder

 

14.02.2021

Fragen Sie. Fangen Sie an. Es gibt für Sie viel mehr zu entdecken, als Sie ahnen!

Es liegt eine besondere Kraft im Austausch unserer Erfahrungen. In Anderen wiederzuerkennen, worin wir uns selbst so lange alleine gefühlt haben, birgt eine besondere Heilkraft. Darum frage ich auch gelegentlich, ob ich die Geschichten und Chats in meinem Blog weitergeben darf. Auch A. gab mir diese Erlaubnis. Dafür bin ich ihr sehr dankbar.

A.:  mein leiblicher vater starb, als ich nicht einmal ein jahr alt war, ich kenne nur meinen stiefvater, der mich nie hat spüren lassen, dass ich nicht sein kind bin, er war immer mein vater…trotzdem hab ich zeit meines lebens das gefühl, das mir jemand fehlt und ich bin jedes mal traurig, wenn ich fotos von ihm sehe, obwohl ich keinerlei bewusste erinnerung an ihn habe…

Ich: Hallo A., zum ganz frühen Elternverlust findest du hier einen Blogeintrag ‘Erinnerung ohne Erinnerung’ vom 07.03.2020: www.spaetetrauer.de/blog

A.: ein sehr interessanter artikel, jedoch habe ich selbst ja keinerlei erinnerung an meinen leiblichen vater und es hat auch kein vater in meinem leben gefehlt, da meine mutter mit meinem stiefvater zusammen kam, als ich ca. 2 war…demnach kenne ich nur diesen vater und meine eltern sind auch bis jetzt zusammen geblieben…ich habe ein foto von ihm als erwachsener und ein paar kinderfotos von ihm…was ich von ihm weiß, stammt alles aus erzählungen…mein ‘problem’ ist eher, dass ich nicht nachvollziehen kann, ob bzw. wie sehr ich ‘sein’ kind bin…ich stelle nur immer wieder fest, dass ich anders bin als meine geschwister und sich dadurch eine grundsätzliche traurigkeit in mir festgesetzt hat…mein vater war erst 24, als er starb und meine mutter wurde damals mit 22 witwe…ich bin jetzt 55…

Ich:  Es gibt keine Standardantworten auf Ihre Fragen. Nur Sie selbst können spüren, was in Ihnen lebt. Wir bestehen aus so vielen Ebenen und Schichten. Der Vater, der für Sie ab ihrem 2. Lebensjahr Ihr Vater war, wird das auch immer bleiben. Zugleich haben wir als Baby, als ein- oder zweijähriges Kind, als sehr kleines Kind, eine sehr, sehr tiefe Verbindung zu unserem leiblichen Vater. Wenn er auf einmal weg ist, ist dort eine Leere. Was macht das mit uns? Was bleibt davon tief in uns?

Vielleicht bringt Ihnen das Erinnerungsbuch Vater etwas? Sie können es hier kostenlos herunterladen: www.spaetetrauer.de/downloads

Erlauben Sie mit, Ihren Beitrag mit Ihrer Vorname in meinen Blog aufzunehmen?

A.:  ich hatte in der kindheit viel kontakt zu meinem opa väterlicherseits, aber auch dort wurde nicht viel erzählt oder über die umstände seines todes…meine mutter redet darüber auch nicht und ich will einerseits fragen und gleichzeitg nicht…

ja, von mir aus können sie die story erwähnen, ohne namen…

Ich:  A., fragen Sie Ihre Mutter. Fangen Sie an. Ich bin mir sicher, es gibt für Sie viel mehr zu entdecken, als Sie ahnen. Es lohnt sich und vielleicht nicht nur für Sie!

 

24.12.2020

Meine Einladung zur Kontaktaufnahme

Eines der kennzeichnenden Muster bei Spät-Trauerden ist, sich schnell ausgeschlossen zu fühlen. Erkennst du dich darin wieder? Wie geht es dir damit während dieser Feiertage in dem Lockdown?

Seit dem Erscheinen unseres Buches haben sich viele bei mir gemeldet. Ich habe mich sehr darüber gefreut und es berührt mich immer wieder. Leider konnten die Seminare in diesem Jahr nicht stattfinden. Darum lade ich dich herzlich dazu ein, Kontakt mit mir aufzunehmen, Fragen zu stellen, die Dinge in Frage zu stellen, deine Erfahrungen zu teilen, deine Geschichte zu erzählen. Meine Antwort folgt meistens nicht umgehend, aber doch immer zeitnah. Du erreichst mich unter kontakt@spaetetrauer.de

 
13.12.2020
Matsuo Basho
 
einsame Stille
nur der Schrei der Zikade
dringt in die Felsen
 
wie viele aufsteigende Wolken
stürzen zusammen und fallen
auf diesen mondbeschienenen Berg
 
in meine Hand genommen
schmelzend in meinen heißen Tränen
schwerer Herbstfrost
 
Matsuo Basho, 1644 -1694, Japanischer Poet
12 Jahre alt, als er seinen Vater verlor.
 
 
06.12.2020
 
Innere Einsamkeit
 
Lass mich eine Frage stellen, die nach dem Buch für mich sehr offen blieb:
Seite 42  in ´Ein Loch in meiner Seele´ “… neigen Spät-Trauernde dazu Verbindungen abrupt abzubrechen…”
Ich habe nie verstanden, warum ich das tue. Ich kann einfach irgendwann nicht mehr.
 
Liebe C.,
 
Deine Frage hat mich in den letzten Wochen immer wieder beschäftigt. Sie ist eine ganz wichtige.
 
Titia Liese schreibt auf www.verlaatverdriet.nu:
 
Viele Spät-Trauernden haben – schon seit dem frühen Sterben eines ihrer Eltern oder ihrer beiden Eltern – das Gefühl, anders zu sein, als andere Menschen. Vielleicht ist das bei dir auch so? Gefühle der damaligen Einsamkeit. Gefühle der jetzigen Einsamkeit. Ein tief versteckter Schmerz. Wut. Scham. Ängste. Das Gefühl, abgetrennt zu sein. Gefühle der Ohnmacht über das, was damals passierte – vor, während und nach dem Sterben deiner Mutter, deines Vaters. Gefühle, die blockiert worden sind. Erstarrt. Versteckt unter einer dicken Schicht Permafrost. Blockierte Gefühle, die dich noch immer wieder daran hindern, in Kontakt zu sein mit dir selbst, mit deinen Mitmenschen, mit der Welt um dich herum. Erstarrte  Gefühle, die im Laufe der Jahre immer neue Gefühle der Ohnmacht, der Wut und der Frustration hervorrufen. In dessen Folge du immer wieder wütend bist auf alles, auf jeden, auf dich selbst und vielleicht noch am meisten auf das Leben.

Ich entdecke immer neue Schichten dieser Muster in mir selbst. Sehe immer mehr, wie ich mich damals, als mein Vater starb und später, als meine Mutter starb, in mich selbst zurückgezogen habe hinter eine Schutzmauer. Ein Schutz, den ich damals zum Überleben auch brauchte! Wie ich nicht mehr auf eine natürliche Weise lernte, von ganzem Herzen ja zu sagen zu mir selbst, zu jedem neuen Tag, zu anderen, zum Leben. Immer eine Distanz gehalten habe. In der Schule, auf Arbeit und in meinen Beziehungen. Immer wieder gab es Zeiten und Situationen, in denen ich die Sehnsucht spürte, diese Mauer zu überwinden und mich mit Kopf und Kragen in eine neue Lebensaufgabe, eine neue Überzeugung oder eine neue Beziehung stürzte. Nur um, koste, was es wolle, am Leben teilzuhaben. Endlich das Gefühl zu haben, zu leben. Dabei verlor ich immer wieder den Teil von mir aus dem Auge, der noch hinter der Mauer zurück geblieben war. Nicht in Kontakt mit mir selbst, hatte ich das Neue bald wieder satt, weil es nicht meinem ganzen Ich entsprach.  Erschöpft und desillusioniert zog ich mich dann wieder komplett  zurück.  

Diese innere Einsamkeit ist DAS zentrale Thema bei Später Trauer. Ich habe immer wieder die Erfahrung gemacht, dass diejenigen, die nicht diese frühe Verlusterfahrung kennen, wirklich keine Ahnung haben, worum es hier geht. Bei Spät-Trauernden ruft es jedoch immer ein befreiendes Gefühl des Erkennens, der Anerkennung und der Wiedererkennung hervor. Endlich verstehe ich mich selbst! Ich bin nicht verrückt! Und ich bin nicht alleine! Es gibt andere, denen es genauso ergangen ist und noch geht!

Wir können wieder oder vielleicht auch zum ersten Male in unserem Leben entdecken, was diese innere Einsamkeit uns selbst gegenüber bedeutet. Wie es sich anfühlt, den Kontakt mit uns selbst zu spüren. Was das überhaupt für uns ganz persönlich bedeutet. Das braucht Zeit und Geduld und irgendwann bekommt die Mauer für uns dann auch eine andere Bedeutung.  Ich sage bewusst nicht, dass sie abgebrochen werden soll, weil es auch sehr viel Wertvolles gibt, was sich hinter dem Schutz dieser Mauer entwickeln konnte. Vielleicht sogar ein wahrer Schatz!

Herzliche Grüße

Bert Pekelder

 

17.11.2020

Mein Herz für mich

Späte Trauer bietet viel Erkenntnis über das, was es mit uns macht, wenn wir jung unsere Mutter, unseren Vater oder unsere beiden Eltern verloren haben. Es geht über Überlebensstrategien, tiefe und versteckte Einsamkeit, Unverständnis bei denen, die dies nicht erlebt haben (auch bei Therapeuten). Es bietet Wiedererkennung und Anerkennung, was uns wirklich sehr gut tut. Und es bietet Ansätze, wie wir mit unserer Späten Trauer arbeiten können. All das findest du im Buch und in den Seminaren.

Trotzdem stelle ich mir in letzter Zeit öfter die Frage, warum es im Kern wirklich geht. Was ist der zentrale Punkt? Auch für mich. Was ist für mich der Mittelpunkt meines Leidens? Das Epizentrum meiner Erschütterungen? Es sind nicht die zweifellos gravierenden Muster, die ich aufdecke. Es ist nicht der Schmerz, der gelegentlich und manchmal unerwartet aufkommt. Es sind nicht die wunderbaren und ebenfalls unerwarteten Momente, in denen mein verstorbener Vater oder meine verstorbene Mutter mir auf einmal näher kommen.

Ich glaube, es sind die Momente, in denen ich ein wenig ein Herz für mich selbst entdecke. In denen ich mein Herz für mich selbst spüre. Auch diese Momente sind unerwartet und meisten nur ganz kurz und schnell übersehen und wieder vergessen. Wenn es jedoch gelingt, mir diesen Moment bewusst zu machen, kann ich mich hinsetzen oder hinlegen, und versuchen, etwas länger darin zu verweilen. Zu spüren. Zu erforschen. Wie fühlt es sich an? Was macht es mit mir? Wo im Körper spüre ich es und wie spüre ich es? Was macht es mit meinem Herz, meiner Atmung, meiner Brust, meinem Bauch? Mit meinen Gedanken? Und ganz wichtig: Was ist anders als sonst? Das alles ist Übungssache und Erfahrungen mit Meditation oder Yoga können dabei eine große Hilfe sein.

Die Arbeit mit deiner Späten Trauer, das Lesen darüber, die Erinnerungen, die dabei aufkommen und die Wiedererkennung in den Geschichten anderer, Körperarbeit und deine ganz eigene Spiritualität können den Weg freimachen für solche Momente.

 

30.10.2020

Die Kehrseite der Resilienz

Nach dem unfassbaren Verlust in unseren jungen Jahren konnten wir nur dadurch überleben, dass wir uns stark und robust zeigten. Machen wir das jetzt, wo wir erwachsen sind, immer noch so? Woran denken Sie beim Wort Resilienz ? Welche Assoziationen ruft das Wort bei Ihnen hervor? Ich ertappte mich selbst dabei, dass die Wörter Resilienz und Widerstandskraft bei mir vor allem Assoziationen mit Kraft hervorrufen. Mit stark sein. Mit es selbst schaffen. Mit überleben. Resilienz ist ein Wort, das zurzeit sehr in Mode zu sein scheint. Aber was bedeutet Resilienz eigentlich wirklich? Nicht nur stark sein. Oder?

Ich werde mir bewusst, dass es eine Kehrseite der Resilienz und der Widerstandskraft gibt. Diese Kehrseite der Resilienz ist:

mich zu trauen, verletzlich zu sein;

mich zu trauen, meine Verletzbarkeit ins Auge zu fassen;

mich zu trauen, meine Verletzbarkeit zu zeigen;

mich zu trauen, meine Hilflosigkeit zu erkennen;

mich zu trauen, meine Gefühle der Ohnmacht zu spüren;

mich zu trauen, die Kehrseite der Resilienz ins Auge zu fassen.

Unter meiner Verletzbarkeit liegt meine Kraft. Meine wirkliche Widerstandskraft.

 

Ein Ausschnitt aus ´Ein Loch in meiner Seele´von Titia Liese und Bert Pekelder. 

 

26.09.2020

ZONENMÄDCHEN – Späte Trauer im Fernsehen

Im Fernsehen gibt es so gut wie nie etwas über Späte Trauer. Und wenn es dann doch unerwartet auftaucht, meistens beiläufig, überrascht und trifft mich das sehr. Vor zwei Wochen war das wieder so. Es lief die Wiederholung eines Films aus 2013.

Die Dokumentarfilmerin Sabine Michel (Jahrgang 1971) erzählt in ZONENMÄDCHEN ihre eigene Geschichte und die ihrer vier Freundinnen. Wie jede nach der Wende ihren eigenen Weg gegangen ist und was aus ihrer Freundschaft geworden ist.

Irgendwann mitten im Film erzählt Vera ihre Geschichte. Es geht aus der Aufnahme nicht direkt hervor, wie alt sie war, als es passierte, aber sie war damals noch sehr klein. Jetzt, mit 41, sitzt sie in ihrer Wohnung in Paris vor dem Regal mit ihrer Musikanlage und startet eine Tonaufnahme:

Wir hören eine Männerstimme:

Februar 1977. Unsere liebe Oma ist bei uns zu Gast und wir wollen einige Lieder singen.

 Vera erklärt nebenbei: Mein Vater

Ihre Kinderstimme ist zu hören:

Das ist der Vater, lieb und gut.

Das ist die Mutter mit frohem Mut.

Das ist der Bruder, stark und groß.

Das ist die Schwester mit dem Püppchen auf dem Schoß.

Das ist das Kinderlein, kinderlein klein.

Und das soll die ganze Familie sein.

Sie schalte die Aufnahme ab und erzählt mit zurückhaltender Stimme, während ihr Blick immer wieder abwandert und vermuten lässt, das unendlich viel mehr durch sie hindurch geht, als sie in Worten ausdrückt. Jeder Satz steht für sich und sie wartet immer einen Moment, bevor sie den Nächsten anfängt:

Wir haben damals in Dresden gelebt.

Meine Eltern waren Studenten und wir sind dann zu Weihnachten zur Familie gefahren. Also zu den, zu meinen Großeltern nach Rostock.

Und meine Mutter ging es nicht so gut.

Weil die ein Kind verloren hatte …   im Jahr zuvor.

Und das bei der Geburt gestorben ist.

Mein Bruder, der bei der Geburt gestorben ist.

Und zu Weihnachten sind wir wie jedes Jahr nach Rostock gefahren zu den Großeltern.

Und dann bin ich mit meinem Vater vorgefahren, weil meine Mutter ja noch in Dresden bleiben wollte. Und uns dann versprochen hatte, dass sie nachkommt. Also einfach einen Tag später.

Und  ja…   also …

Wir waren dann eben bei meiner Oma in Rostock.

Und ich kann mich ja einfach noch sehr gut daran erinnern, dass ich dann den ganzen Tag da am Küchenfenster gestanden habe und über den riesigen Platz, der heute bebaut ist, aber damals war der relativ leer, geguckt hab …   , ob meine Mutter dann irgendwo am Horizont um die Ecke kommt…

…   und ankommt.

Und sie ist dann nicht gekommen.

Also und dann, ja …

Die Erinnerung, die ich habe, ist, dass man mir eben einfach gesagt hat, dass sie …   , dass sie jetzt nicht mehr ist.

Also… und das habe ich damals nicht so richtig verstanden …

Dass ich meine Mutter verloren habe, das war …   ,

da habe ich mich so geschämt irgendwie dafür, ohne das zu wissen.

Aber es ist für mich auch der absolute Motor, selber eine Familie zu gründen.

Ja, das ist für mich immer noch ein starker Traum.

Bis jetzt habe ich das noch nicht geschafft.

Ich habe mich letztes Jahr getrennt von meinem langjährigen Lebenspartner…

Also, aber es ist irgendwie immer noch so ein Wunsch.

So ein starker …

Dass ich den Wunsch habe, Kinder zu haben …

 

15.08.2020

Ich erinnere mich noch genau, wie ich mit meinem Erstkommunionskleid an seinem Sterbebett saß, die ganze Nacht. Diese unendliche Sehnsucht bei mir nach dem großen Prinzen ist ja logisch. Mein Bruder war mein Prinz. Und dann war mein Vater mein Prinz. Und die hauen einfach ab.

Hannelore Elsner, 1942–2019, Schauspielerin. 8 Jahre alt, als sie ihren Vater verlor.

Töchter und Mütter

Wir kennen es in der umgekehrten Reihenfolge: Mütter und Töchter. Doch bei meiner Arbeit begegne ich meistens den Töchtern und im Allgemeinen nicht den Müttern. Töchter und Mütter also. Die Tochter verlor ihren Vater. Die Mutter verlor ihren Mann. Die Tochter und die Mutter verloren die gleiche Person. Aber den Vater zu verlieren, während sie noch dabei ist, aufzuwachsen, ist für die Tochter etwas anderes, als für die Mutter, ihren Mann zu verlieren. In vielen Fällen ist dieser Verlust der Startpunkt einer komplizierten Beziehung zwischen der Tochter und der Mutter. Für die Tochter ist dieser Einschnitt der unum-kehrbare Verlust desjenigen, der vorhatte, sie aufzuziehen. Sie zu beschützen. Sie zu inspirieren und auf ihrem Weg zum Erwachsensein zu führen. Für die Mutter ist dieser Einschnitt der unumkehrbare Verlust ihres Partners. Der Mann, mit dem sie gemeinsam ihr(e) Kind(er) aufziehen wollte. Mit dem sie ihrem Kind oder ihren Kindern ein Zuhause und einen sicheren Hafen bieten wollte. Bis der Tod dieser Zukunft ein Ende machte. Die Tochter verlor ihren Beschützer. Ihren Vater, der sie beim Finden ihres Platzes im Leben begleiten sollte. Die Mutter verlor ihren Partner. Den Mann, mit dem sie ihr Kind oder ihre Kinder großziehen wollte.

Die Tochter und die Mutter. Gefangen im Trauma des Lebenseinschnitts. Beide auf ihren eigenen Inselchen. Erstarrt. Verhärtet. Gepanzert gegen die Härte des Lebens. Zutiefst verlangend nach Liebe und Aufmerksamkeit. Nicht mehr imstande, einander die Hände zu reichen. Zu beschützen. Zu schonen. Zu streiten. Auf Abstand. Die Mutter nach dem Verständnis der Tochter verlangend. Die Tochter danach verlangend, mit der Mutter ihre Gefühle zu teilen. Nicht mehr imstande, einander zu erreichen. Beide einsam. Beide verletzbar. Auf Abstand gebunden. In Kälte. Anstelle von Verbundenheit und Nähe. In Wärme.

 

Ein Ausschnitt aus ´Ein Loch in meiner Seele´von Titia Liese und Bert Pekelder.

 

25.07.2020

Gefangen

Kennst Du das Gefühl, gefangen zu sein? Dich nicht bewegen zu können? Von anderen, von den Umständen fremdbestimmt zu sein? Aber auch von Deinen eigenen inneren Konflikten, von Deiner Verwirrung? Das Gefühl, wahnsinnig zu werden, zu explodieren, weil Deine Energie, Deine Lebensenergie keinen Weg nach außen findet? Voller Sehnsucht nach Freiheit?

Damals, als unsere Mutter oder unser Vater krank wurde, als sie oder er verstarb, als uns plötzlich wie aus heiterem Himmel die Nachricht erreichte, dass unsere Mutter oder unser Vater tot war. Verunglückt. Ermordet. Sich selbst das Leben genommen hatte. Damals konnten wir unsere unfassbare Trauer nicht äußern, nicht vermitteln, war die Frau oder der Mann, die oder der genau in diesem Moment bei uns hätte sein müssen, nicht mehr da. Wie hätte unser vielleicht übriggebliebener Elternteil und die anderen Erwachsenen überhaupt jemals diesen Verlust, dieses Loch ersetzen können? Und wir waren mitten in unserer Schockstarre. Gefangen in uns selbst. In unserem größten Leiden. Abgeschnitten von unserem Körper, von unseren Gefühlen. Höchstwahrscheinlich in unserem Kopf oder völlig verschwunden. Und die Lebensumstände änderten sich weiter. Vielleicht folgten Umzüge und eine andere Lebenspartnerin oder ein Partner unserer übriggebliebenen Mutter oder unseres Vaters. Oder wir waren gefangen im Wohlwollen der Verwandten, mehr oder weniger Bekannten oder offiziellen amtlichen Entscheidungsträgern und Betreuern. Manchmal auch gefangen in geistiger oder körperlicher Gewalt durch andere. Gefangen in Ohnmacht.

Erlebst du dieses Gefühl immer noch? Und Ausbrechen hilft so wenig. Kündigungen. Trennungen. Umzüge. Wechsel von Überzeugungen und Glaubensrichtungen. Zu oft setzt sich dieses Gefühl der Unfreiheit nach einer (kurzen) Weile wieder durch. Wir nehmen uns selbst mit, wohin wir auch gehen (oder flüchten).

Es wird viel darüber geschrieben, dass wir unser inneres Kind wiederentdecken können. Vieles davon ist eine „Modeerscheinung“, aber der Kern dieser Einsicht ist wahr. Wir können wieder Kontakt finden zu unserem inneren Kind. Dabei gehen wir zurück in die Zeit,  bevor uns unser Kindsein schleichend oder auch abrupt genommen wurde. Aber auch in die Zeit, als die Dinge und wir selbst zum Stillstand kamen. Als wir uns selbst fremd wurden.

Wir kommen damit wieder in Bewegung. Und diese Bewegung nimmt uns mit vorwärts! Die tiefgreifende Trennung zwischen unseren Gefühlen, unseren Gedanken und unserem Körper wird transparenter und löst sich. Das schenkt uns Freiheit und Lebendigkeit. Damit wächst unser Selbstvertrauen, unsere Gewissheit und Klarheit über uns selbst und unsere tiefsten Bedürfnisse und unseren Mut, nicht länger Opfer zu sein, sondern unser Leben selbst zu gestalten. Das ist, was wir in Späte Trauer meinen, wenn wir von unserem Weg vom Überleben zum Leben sprechen.

 

11.07.2020

Die Jugend wäre eine schönere Zeit, wenn sie erst später im Leben käme.

Charlie Chaplin, 1889–1977, Schauspieler, Komiker, Regisseur, Filmproduzent.

12 Jahre alt, als er seinen Vater verlor.

Kraft und Verletzbarkeit

´Erwachsene, die in ihrer Jugend einen Elternteil durch den Tod verloren haben, haben gezeigt, dass sie unter schwierigen Verhältnissen groß werden konnten.´

Diese Worte wurden mir vor Jahren von einem Therapeuten gesagt. Sie sind mir noch frisch in Erinnerung geblieben. Ich sehe so oft bei Menschen, die spät trauern, die Angst vor dem Vorwurf, sie blieben in ihrer Opferrolle hängen. Dieser Vorwurf ist so ungefähr das Letzte, was man hören möchte. Alles andere lieber als das. Dann doch lieber sich selbst überschreien. Robustheit vortäuschen. Niemandem zeigen, wie verletzbar man innerlich eigentlich ist. ´Ich bin kein Opfer!´

In dem Moment, in dem Sie als Kind Ihre Mutter, Ihren Vater verloren, änderte sich Ihr Leben. Für immer. Durch einen Einfluß von außen. Ein Einfluß von außen, worauf  Sie selbst überhaupt keinen Einfluß hatten. Das war Schicksal, in diesem Fall der Tod. Sie standen daneben und konnten gegen diese Kraft des Todes nichts ausrichten. Sie waren wirklich ein Opfer dessen, was passierte. In jenem Moment des Opferseins waren Sie einer Kraft von außen ausgesetzt, die vielmals größer war als Sie selbst. Das kann ein lebenslanges Gefühl der Ohnmacht ausgelöst haben. Es passierte etwas in Ihrem Leben (oder Sie befürchteten, dass etwas passieren könnte). Es passierte etwas, dem Sie sich nicht gewachsen fühlten. Es passierte Ihnen. Sie hatten das Gefühl, dass Sie nichts tun konnten. Das bedeutet, dass Sie sich ohnmächtig fühlten.

Spät-Trauernde können im Erwachsenenalter leicht wieder von diesen Gefühlen der Ohnmacht überrollt werden. Diese Gefühle der Ohnmacht zu erkennen, ist der Anfang der Heilung. Sie  waren  damals  Opfer.  Sie  müssen  jetzt  kein  Opfer bleiben. Ihre Verletzbarkeit zu erkennen. Das ist Kraft. Erinneren Sie sich regelmäßig an diese Worte:

 ´Erwachsene, die in ihrer Jugend einen Elternteil durch den Tod verloren haben, haben gezeigt, dass sie unter schwierigen Verhältnissen groß werden konnten.´

 

Ein Ausschnitt aus ´Ein Loch in meiner Seele´ von Titia Liese und Bert Pekelder

 

01.06.2020

Erinnerungen der Gegenwart

Heute ist Kindertag. Auch für uns als Kind. Was kann passieren, wenn wir uns unserer lange verstorbenen Mutter, unserem lange verstorbenen Vater annähern? In den Späte-Trauer Seminaren nehmen wir uns dafür viel Zeit.

Mein eigener Vater starb, als ich 10 Jahre alt war und ich habe jedem immer wieder gesagt, dass ich zu ihm keine Verbindung spüre. Es gibt kaum noch Verwandte, die über ihn Erinnerungen zu erzählen haben. Ich sammle schon lange Fotos von ihm. Fotos, auf denen er zu sehen ist und Fotos, die er selbst gemacht hat. Ich klebe sie auf, denke über sie nach, versuche mich zu erinnern. Seine und meine Vergangenheit öffnet sich dadurch manchmal etwas, aber manchmal auch nicht. Es kommt mir trotzdem vor, als ob dieses Spielen mit den Fotos einen Nährboden bereitet für Momente, in denen völlig unerwartet etwas passiert. Etwas Nicht-Gedachtes. Etwas, was durchrüttelt. Als ob Teile in mir sichtbar werden, sich zusammen fügen, die ich in all diesen Jahren nie (wieder) gesehen oder gespürt habe.

Vor einer Woche sah ich im Halbschlaf auf einmal, wie zwei Fotos in meiner Sammlung zusammenpassen. Am nächsten Tag legte ich sie sofort aneinander und es passierte etwas Wunderbares. Etwas, was ich niemals für möglich gehalten hätte. Ich möchte das hier nicht genauer benennen. Manchmal sollten wir das, was uns so tief bewegt, in uns selbst schützen. Nur so viel kann ich sagen: Erst im Nachhinein wurde mir klar, dass mein Vater und ich auf den beiden Bildern genau gleich alt sind!

Ich bin davon überzeugt, dass es bei dieser Arbeit nicht nur darum geht, alte Erinnerungen wiederzubeleben. Manchmal gibt es diese Erinnerungen gar nicht mehr so, wie wir sie erwarten. Zum Beispiel, wenn unsere Eltern ganz früh verstorben sind. Vielmehr machen sich in solchen Momenten Teile von uns selbst in der Gegenwart spürbar, die ganz tief verschollen waren. Die wir vielleicht bisher nie entdecken und entwickeln konnten. Teile, die jetzt zusammenkommen und uns kompletter machen.

Ich lade Dich also zu diesem Kindertag und zu allen Tagen, die noch kommen, herzlich dazu ein, zu sammeln, zu schreiben, zu malen, kreativ zu werden, zu spielen wie ein Kind. Wie das Kind, das du bist. Ohne konkrete Erwartungen, aber immer offen und aufmerksam für das, was vielleicht passiert. Für das Unerwartete.

 

13.04.2020

Vertrauen

Vertrauen ist für viele Spät-Trauernde ein schwieriges Thema. Als Folge des Einschnitts, des unumkehrbaren Verlusts haben viele von ihnen ihr Grundvertrauen verloren. Ihr Grundvertrauen in sich selbst. In andere Menschen. In das Leben. Kontrolle ist an die Stelle von Vertrauen getreten. Manchmal ist sie so stark, dass man denken könnte, Spät-Trauernde sind wantrouwend. Aber sind sie das auch wirklich? Das niederländische Wort wantrouwen bedeutet, wortwörtlich übersetzt, so etwas wie: negatives Vertrauen oder falsches Vertrauen. Im Niederländischen kennen wir das Wort Misstrauen nicht. Das ist schade. Denn die meisten Spät-Trauernden sind nämlich nicht wantrouwend. Sie vermissen Vertrauen. Sie misstrauen.

Ein später Trauerprozess ist ein alternierender Prozess. Wir werden in diesem Prozess, wie das Pendel eines Uhrwerks, zwischen Extremen hin und her gerissen. Einschließlich aller Zwischenstadien. Freude und Kummer. Liebe und Gleichgültigkeit. Vertrauen und Zweifel. Zorn und Erleichterung. Liebe und Angst. Einsamkeit und Verbundenheit. Zynismus und Vertrauen. Vertrauen und Misstrauen.

Ein später Trauerprozess ist eine große Übung, Vertrauen zu lernen. Das Vertrauen darauf, dass nach einer schlechten Zeit wieder eine gute Zeit kommt. Das Vertrauen darauf, dass eine gute Zeit uns immer wieder einen kleinen Schritt näher zu uns selbst bringt.

Ein Zitat aus ´Ein Loch in meiner Seele´von Titia Liese und Bert Pekelder. Erhältlich überall im Buchhandel.

 

20.03.2020Meine Späte Trauer in Alarmbereitschaft!

Dieser Moment, in dem die ganze Welt in einen Ausnahmezustand gerät, versetzt mich unerwartet zurück in die Zeit, in der ich als Kind in meine ganz private Ausnahmezustand geriet. Der gleiche unbestimmte Druck. Wie ein ständiges Brummen im Hintergrund. Wie eine Beklemmung in meiner Brust. Ein Band um meinen Kopf. Ein Stein in meinem Bauch. Etwas in meinem Hals. Ungreifbar und trotzdem unablässig anwesend. Aufgedrehtheit und zugleich Betäubung. Zittrigkeit, Flattrigkeit, Ohrensausen und Schwitzen. Abschottung und Überempfindlichkeit. Zurückgezogen in mich selbst und trotzdem der Welt so schutzlos ausgeliefert. Dieser Moment versetzt mich zurück in alte Lagen. Auf einmal rieche, spüre, höre, schmecke ich wieder, wie und wo ich damals war und was das mit mir gemacht hat. Und es wird mir klar: Diese Ausnahmezustand, diese Alarmbereitschaft hat mich lebenslang begleitet. Jetzt ist der Moment, mich selbst besser zu verstehen. Jetzt ist die Chance, diesen dauerhaften Stress tief in mir zu spüren, zu umarmen und etwas mehr loszulassen, sanfter und verständnisvoller zu mir selbst zu werden.

Richtig – ich hatte letzte Woche 3 Fiebertage und wachte nachts in einer Panikattacke hilflos weinend und am ganzen Körper zitternd auf – das ging gut über 1 Stunde, bis es nachließ und ich erschöpft wieder einschlafen konnte. Gegen Morgen in der normalen Aufwachphase kamen dann klarere Erinneringsbilder hoch, und es wurde deutlich: das waren Erlebnisse aus einer Zeit, in der ich noch sprachlos und hilflos war, aber laut und gewaltsam um mich herum gestritten wurde! Gottseidank konnte ich das in Laufe des Tages in Ruhe weiter bearbeiten und nachvollziehen, wie sehr die familiären Umstände in meinen ersten 3 Lebensjahren dies geprägt hatten. Auch wenn es so schmerzlich und schwierig war, dies jetzt noch einmal durchleben zu müssen: der innere Druck hat dadurch enorm nach gelassen und mir mehr Verständnis gegeben dafür, warum ich ein scheinbar so “braves” und “pflegeleichtes” Kleinkind gewesen war (“Du hattest nie eine Trotzphase”, pflegte meine Mutter ganz stolz zu sagen). Heute weiß ich, dass es sich für mich als Säugling so anfühlte, als würde man mich gleich zu Tode prügeln und ich der Gewalt in der Familie schutzlos ausgeliefert war. Allein das unbeachtet in Raum liegen gelassen werden während dieser Szenen hat dazu ausgereicht. Im späteren Alter – so um 2.5 bis 3 Jahren – erinnere ich mich schon immer, dass sich der Boden unter meinen Füssen wegdrehte, oder welche Panik Träume ich hatte. Ja, sehr interessant, was die aktuelle Krise so hochspült an vergrabenen Erinnerungen. Für mich schließt sich da ein Kreis und erklärt auch, warum mich der Tod des Vaters in Alter von 6.5 so traf und nicht zu verarbeiten war.

 

… jetzt, über 2 Jahre nach dem Tod meiner Mutter, muss ich komplett neu anfangen – mit ihrem Weggang ist irgendwie die letzte “Sicherheit” zerbrochen, und täglich erkämpfte ich mir mühsam ein Stück von mir. Mit war gar nicht bewusst, dass die latente Antriebslosigkeit und emotionale Disbalance so tief greifende Ursachen hat. Ich hatte schon gemeint, ich hätte einfach eine genetisch schlechte Disposition o.ä. und klassische Psychoanalyse erschien mir absolut ungeeignet, weil immer vom Verstand ausgehend, und viel zu schnell mit Psychopharmaka an der Hand. Das ständige innere Zittern, die übermäßige Muskelspannung, die Ängstlichkeit – ich versuchte, so gut es ging damit zu leben. Wenn ich jetzt hier diese Erfahrungen mitlese, verstehe ich viel mehr, wie sehr auch die Traumata der Eltern dieses Umfeld mit erschufen – im Sinne von: die Kriegswunden werden an die nächsten Generationen weiter getragen … Fazit: es ist viel Arbeit, aber jeder kleine Schritt lohnt sich! Mir ist die Verhaltens Therapie eine gute Unterstützung, dort kann ich erste (winzige) Erfolge erfahren…

 

Tanja (auf  der Facebook-Seite Spaete Trauer)

 

15.03.2020

Ein Verlust nach einem Verlust nach einem Verlust nach einem …

Vielleicht erkennst Du Dich total (oder überhaupt nicht, oder nur zum Teil) wieder in dem nachfolgenden Text. Die Umstände in unserem Leben, als wir unsere Mutter, unseren Vater verloren und auch in der Zeit danach, mögen unterschiedlich gewesen sein. Trotzdem überrascht es mich immer wieder, wie ähnlich sich Spät-Trauernde doch oftmals sind in Ihrem Ringen um ein erfülltes Leben.

Der Unterschied ist, dass du mit 30, 40 oder 50 nicht zusätzlich zu den Eltern dein gesamtes Alltagsleben verlierst, weil du deine Welt bereits aufbauen konntest. Weh tut es natürlich genau so sehr, aber du verlierst nicht auch noch deine Freunde, deine Schulkameraden, deine Heimat, musst dich nicht weit entfernt von allem, was du kennst, in eine Pflegefamilie oder ein Kinderheim eingewöhnen. Als Erwachsener wirst du bedauert, als Heimkind misstrauisch beäugt, weil du ja wahrscheinlich irgendwie schwer erziehbar oder halb kriminell sein musst, dadurch hast du es schwer, neue Freunde oder später einen Ausbildungsplatz zu bekommen usw.

 

Monika (auf  der Facebook-Seite Spaete Trauer) 

 

Nach dem Tod meiner Mutter (ich war da 13) hatte ich nur meinen Vater und einen Angestellten von ihm – ich war ab dem 15. Geb nicht zu Hause (Schule und Lehre) – nach seinem Tod (da war ich 21) nur den ehemaligen Angestellten, welcher im Haus wohnte und seine Lebenspartnerin welche nachdem sie mich kurz ins Geschäft eingeführt und ich inzwischen geheiratet hatte, also nach knapp 1 Jahr ausgezogen ist; damals war das ein GH und auch, bis knapp vor seinem Tod; eine Landwirtschaft…

 

Josef (auf  der Facebook-Seite Spaete Trauer) 

 

Hast Du manchmal das Gefühl, dass Du nie wirklich im Leben angekommen bist? Dass das Leben, Dein Leben nicht wirklich deine Heimat ist? Dass Du Dich, obwohl Du es immer wieder versuchst, nicht wirklich Teil vom Ganzen fühlst?  Oder dass Geschehnisse Dir wiederholt den Boden unter den Füßen weghauen? Und dass, wenn das passiert, wirklich nichts mehr Sinn und Halt gibt? Dass Du Dich dann nicht mehr wehren kannst? Dass dann die ganze Wirklichkeit nur noch ein großes schwarzes Loch ist?

Als wir als Kind oder Jugendliche unsere Mutter, unseren Vater oder unsere beiden Eltern verloren, hat das in den allermeisten Fällen eine ganze Kaskade weiterer Verluste ausgelöst. Wir verloren nicht nur unsere verstorbene Mutter, nicht nur unseren verstorbenen Vater. Die zurückgebliebene Mutter, der zurückgebliebene Vater war auch nicht mehr die- oder derjenige, die sie vor dem Verlust waren. Gerade als wir sie oder ihn doch so dringend als stabilen Anker brauchten. Die Bindungen innerhalb der Familie änderten sich. Unsere eigene Rolle änderte sich. Vielleicht wurden wir zur Ersatzmutter, zum Ersatzvater. Oder es trat eine neue Partnerin, ein neuer Partner an die Seite Deiner Mutter, Deines Vaters. Sollten wir sie nun Mama oder Papa nennen? Möglicherweise kamen auch neue Geschwister dazu. Manchmal folgten Umzüge, andere Schulen, andere Klassenkameradinnen oder -kameraden. Andere Großeltern, Pflege- oder Stiefeltern. Andere Regeln. Andere Haustiere. Andere Urlaube. Anderes Essen. Andere Gerüche. Andere Geräusche. Eine ganz andere Familienkultur. Oder gar keine Familienkultur, weil wir in einem Heim landeten, oder in stetig wechselnden Ersatzfamilien. Und jedes Mal riss es uns den Boden unter unsere Füße (ein Stück weiter) weg. Jedes Mal verloren wir noch mehr das Vertrauen in die Welt, in die Wirklichkeit, in unsere eigene Daseinsberechtigung, in uns selbst.

Viele Spät-Trauernde leben dadurch womöglich mit einer ganz tiefen inneren Einsamkeit. Eine Einsamkeit, die sie selbst manchmal gar nicht wahrnehmen, weil diese ihnen so vertraut ist und die auch von ihrem Umfeld nicht wahrgenommen und verstanden wird. Sie zogen sich zurück in einen inneren Schutzraum. All diese Verluste veranlassten eine (schrittweise) Trennung von Körper, Gefühl und Denken. Eine schleichende Dissoziation, ein Entwicklungstrauma.

Ein Entwicklungstrauma ist meist hoher Stress, der über längere Zeit anhält und oftmals damit verbunden ist, sich nirgendwo sicher zu fühlen. Dies führt zu weitaus gravierenderen Folgen, da Kinder unter solchen Umständen kaum die Möglichkeit haben, sich „normal“ zu entwickeln. Ein Entwicklungstrauma greift meist sehr viel tiefer in die Persönlichkeitsstruktur und –entwicklung ein, als das ein Schocktrauma tut.

 

Dami Charf auf www.traumaheilung.de

 

Ich hatte großes Glück. Mein Therapeut sagte mir irgendwann: ´Anfangs habe ich gedacht, es ginge bei Ihnen darum, dass Sie noch um den Tod Ihrer Eltern trauern. Es ginge um eine Depression. Dann habe ich verstanden, dass die Folgen Ihrer Verluste viel weitreichender sind.´ Einige zeit später Später fragte er mich: ´Wie geht es Ihnen mit Ihrem Körper?´ Ich wusste nicht so genau, wie er auf diese Frage kam. ´Nun´ sagte er, ´Sie erzählten mir, wie es Ihnen oftmals den Boden unter den Füßen weg geschlagen hat. Wie Sie sich in manchen Situationen oftmals so machtlos, so ausgeliefert fühlten. Aber schauen Sie. Der Boden ist immer noch da. Es ist die Beziehung zu Ihrem Körper, die Sie in solchen Momenten verloren. Und jetzt finden Sie diese Beziehung allmählich zurück. Jetzt entdecken Sie die Sprache Ihres Körpers wieder.´

Dein Späte-Trauer-Prozess beinhaltet nicht nur das späte Trauern um den Tod Deiner Eltern. Es geht womöglich auch um die traumatisierenden Folgen dieser Kaskade der Verluste. Diese Einsicht kann Dir womöglich auf Deinem Weg helfen. Dein Weg zur (Re-)Integration von Körper, Gefühl und Denken. Ein Ankommen in Deinem Körper und damit in dieser Welt. Ob Du diesen Weg nun allein mit Dir selbst gehst oder mit Hilfe einer Therapie. Letztendlich ist es unser eigenes Verstehen, unser Wissen um uns selbst, das uns befreien und uns unsere volle Lebendigkeit wiedergeben kann.

Eine Buchempfehlung: Sprache ohne Worte, Peter A. Levine, Kösel 2010

 

07.03.2020

Erinnerung ohne Erinnerung

Erwachsenen, die ganz früh einen Elternteil oder beide Eltern verloren haben, bekommen gelegentlich zu hören: ‘Du hast keine Erinnerungen, also brauchst oder kannst Du darüber auch keine Trauer empfinden. Wie kannst Du deine Mutter oder deinen Vater vermissen, wenn Du nie eine Beziehung zu ihr oder zu ihm hattest?’

Mein Vater ist 2 Monate vor meiner Geburt gefallen, ich habe viel geweint als Kind.

Heidi (auf  der Facebook-Seite Spaete Trauer) 

 

Meine Mama hätte heute Geburtstag. Ich kann mich nicht an sie erinnern, war 13 Monate alt ….

Erika (auf  der Facebook-Seite Spaete Trauer)

 

Mein Vater starb ein paar Wochen nach meinem 2. Geburtstag. Kann mich leider nicht an ihn erinnern. Aber die Lücke ist da, habe ihn immer vermisst. Besonders bei feierlichen Ereignissen, meine Hochzeit, die Geburt meiner Kinder und Enkelkinder und… Meine Mutter habe ich noch immer, sie wird in 14 Tagen 94 Jahre.

Hanna (auf  der Facebook-Seite Spaete Trauer)

 

oder eine andere Variante davon ist die Auffassung Außenstehender, man habe doch eh keine richtige Beziehung zu der Mutter gehabt, sie habe einen doch sowieso nur schlecht behandelt usw.
Auch das ist für Andere nicht zu beurteilen, denn auch dann trauert man – irgendwie. Oder mal realisiert seine Trauer nicht, weil sie sich in was ganz Anderem ausdrückt.
Ich glaube, dass das bei mir so gewesen ist.
Auch hatte ich Jahrzehnte lang, bis weit, weit bis in’s Erwachsenenalter Angst vor der Nacht, in der sie gestorben ist. Angst davor, dass sie mich holen könnte, dass auch ich an dem Datum sterben könnte.
Inzwischen hat sich das verflüchtigt…

Hella (auf  der Facebook-Seite Spaete Trauer)

 

Ich war 7 Monate alt, als meine Mutter starb und 5 Jahre,als mein Vater tödlich verunglückte. Ich kenne das Gefühl sehr gut,dieses Loch in der Seele,das fehlende Urvertrauen,Ungeborgenheit, das Gefühl von Alleinsein und eine grosse Sehnsucht nach Dazugehörigkeit und Angekommensein, aber auch die Kehrseite dessen : Autonomie, Selbständigkeit, sich selbst ein guter Partner zu sein, allein sein auch als etwas Positives wahrzunehmen, Unabhängigkeit und eine gewisse Stärke entwickelt zu haben.
Ich bin heute 61 Jahre jung und habe zwei grossartige Söhne ins Erwachsenenleben begleiten dürfen, wofür ich sehr dankbar bin, weil ich weiss, dass das keine Selbstverständlichkeit ist.
Dennoch, das Loch in der Seele ist geblieben, ich hab halt gelernt, damit halbwegs umzugehen.
lg Silvia (auf  der Facebook-Seite Spaete Trauer)

Vielleicht kennst Du das aus eigener Erfahrung. Dein Vater ist vielleicht schon vor deiner Geburt verstorben. Deine Mutter starb vielleicht bei Deiner Geburt oder kurz danach. Möglicherweise stellst Du Dir auch selbst diese Fragen: ‘Darf ich Trauer empfinden? Darf ich sie oder ihn vermissen? Habe ich dazu das Recht? Bilde ich mir das nur ein? Ist es alles nur Selbstmitleid?’ Deine Späte Trauer, Deine Verlusterfahrung ist dadurch für Dich womöglich zutiefst ungreifbar, versteckt. Erlaube Dir, diese Gefühle zu entdecken und ebenso auch Deinen Zweifel darüber! Deine verstorbene Mutter bleibt Deine Mutter! Die Frau, die Dir das Leben schenkte. Dein verstorbener Vater bleibt Dein Vater. Der Mann, der immer für Dich da sein sollte um Dich zu unterstützen. Die Eltern, die Du, wie jedes Kind, so brauchtest. Auch wenn es für Dich zunächst keine greifbare Erinnerungen zu geben scheint. Sehr, sehr viel ist möglicherweise viel tiefer in Deinem Körper gelagert. Der Weg dahin ist ein Weg zu Dir selbst und dieser Weg ist so lohnenswert!

Der richtige Weg zur Ganzheit besteht aus schicksalsmäßigen Umwegen und Irrwegen.

C.G. Jung

 

18.01.2020

Verletzbarkeit

Es erfordert Mut, die eigene Lebensgeschichte zu teilen. Wir zeigen damit unsere Verletzbarkeit und ringen oftmals mit der Angst, dadurch an Sicherheit und Ansehen zu verlieren. Was ist jedoch, wenn wir dadurch nicht verlieren, sondern gewinnen? Wenn es unsere Menschlichkeit vertieft und den Raum öffnet für ganz neue Begegnungen?

Die folgenden Texte schickte Marga auf Facebook:

Meine Mutter ……

Wohl dem, der seine Mutter kennt,
die ihn bei seinem Namen nennt ….
Sie war kaum geboren,
so jung…und hatt’ sie schon verloren ..
sie war doch noch so klein
und auf einmal ganz allein.
Da waren Menschen um sie rum,
doch die blieben stumm ….
keiner nahm sie in den Arm,
gab ihr Trost und hielt sie warm …..
ihr ganzes Leben blieb ‘ne Such -Aktion,
hatte selber Kinder schon,
gab ihnen Liebe und ein Nest
und stellte für sich fest,
vergeh’n auch noch so viele Jahr’,
die Mutter fehlt, wenn sie nicht da,
in all der Zeit bleibt das präsent,
wohl dem, der seine Mutter kennt.

An meinen Vater

Papa, ich war mein Leben lang
ungerecht zu dir,
verzeih mir.
Als meine Mama starb,
war es die zweite Frau,
die dir genommen wurde.
Du bliebst zurück mit 4 Kindern.
Ich war die Kleinste
und du hast dich an mich geklammert,
Ich hab gejammert und wollte das nicht.
Nur ein Jahr danach wurdest du
mir auch genommen.
Ich war 5 und hab es nicht verstanden.
Hat man mich gefragt,
wenn du dir jemand wünschen könntest,
wer sollte dann wiederkommen?
“Die Mutter” hab ich gesagt,
denn dich hatte ich nur traurig
in Erinnerung,
Ich war einfach noch zu jung.
Verzeih mir Papa, heut weiß ich es besser,
du hattest mich lieb.
Deine Kinder waren damals
das einzige, was dir blieb.

Marga

 

11.01.2020

Peter A. Levine

Ein wichtiger Baustein zum Verständnis von Später Trauer liefert bestimmt auch Peter A. Levine in seinen Büchern über Traumaarbeit. Der junge Verlust der Mutter, des Vaters oder der beiden Eltern wird in therapeutischen Fachkreisen selten oder nie als eine potenziell traumatische Erfahrung gesehen. Es ist an uns, Spät-Trauernden, für diese Einsicht zu kämpfen, der Welt klar zu machen, dass es genau das ist, was wir erlebt haben und noch immer erleben!

Potenziell traumatische Situationen lösen Zustände von großen physiologischer Erregung aus, ohne dass die betroffene Person frei ist, diese Zustände auszudrücken und zu überwinden: Gefahr ohne die Möglichkeit von Angriff oder Flucht oder sie anschließend „abzuschütteln“, wie ein wildes Tier es nach der beängstigenden Begegnung mit einem Angreifer tun würde. Was Verhaltensforscher tonische Immobilität nennen – die Gelähmtheit und das physische/emotionale Abschalten, die typisch sind für die universelle Hilflosigkeit angesichts einer tödlichen Gefahr – beherrscht allmählich das Leben und Wirken der Person. Wir sind  „starr vor Schreck“. Anders als bei Tieren, wird dieser Zustand vorübergehender Erstarrung bei Menschen zum langfristigen Wesenszug. Der Überlebende kann, wie Peter Levine ausführt, „in einer Art Schwebezustand stecken bleiben, ohne sich wieder wirklich auf das Leben einzulassen“. In Situationen, in denen andere nicht mehr als eine leichte Bedrohung wahrnehmen oder sich sogar positiv herausgefordert fühlen, erlebt die traumatisierte Person Bedrohung, Gefahr und eine mentale/physische Antriebslosigkeit, die ihren Körper und ihren Willen lähmt. Scham, Depression und Selbstvorwürfe sind eine Folge dieser aufgezwungenen Hilflosigkeit.

Dr. med. Gabor Maté im Vorwort zu: Sprache ohne Worte, Peter A. Levine, Kösel 2010

 

03.01.2020

Der nachfolgende Text stammt von Titia Liese. Niederländische Informationen über Späte Trauer findest Du hier: www.verlaatverdriet.nu

Doppelter Elternverlust

Kinder, die im jungen Alter einen Elternteil verloren haben – die Halbwaisen – haben nach dem Verlust fast alle die gleiche große Angst. Die Angst davor, auch ihren anderen Elternteil zu verlieren. Die Angst davor, Vollwaise zu werden.Für einige Kinder wurde diese Angst davor zur Wirklichkeit. Diese Kinder – die Vollwaisen – verloren beide Eltern und damit für immer ihr elterliches Zuhause. Und die Familienkultur, in der sie bis zu dem Zeitpunkt gelebt hatten.

Verlust der Familie

Es gibt Kinder, bei denen es einige Jahre gab zwischen dem Tod des einen Elternteils und dem Tod des anderen. Andere Kinder verloren ihre Eltern auf einem Schlag. Zum Beispiel als Folge eines Verkehrsunfalls, bei dem sie womöglich auch selbst betroffen waren. Ab dem Moment, an dem beide Eltern verstarben, wurden diese Kinder an anderen Stellen als ihr ursprüngliches Zuhause untergebracht. Manche Kinder wurden von Verwandten aufgenommen, andere in einer Pflegefamilie, die sie bis zu dem Zeitpunkt vielleicht überhaupt nicht kannten. Wieder andere Kinder wurden ´außer Haus´ untergebracht. Für sie fing oftmals ein herumziehendes Leben vom einen Kinderheim zum nächsten an.

Dankbar sein

Wo auch immer diese Kinder landeten, in fast allen Fällen mussten sie ihren Platz erkämpfen. Sie mussten sich immer Mühe geben und dankbar sein für den kleinen Platz, den sie erhalten hatten. Die Familie, in der sie bis zu dem Zeitpunkt aufgewachsen waren, gab es nicht mehr. Die Kultur der Familie, in der sie bis dahin lebten, verschwand für immer. Nie wieder konnten sie ihre Daseinsberechtigung als selbstverständlich annehmen.

Verletzbarkeit

Menschen, die im jungen Alter einen Elternteil verloren, haben oft, um sich selbst und ihre Gefühle zu schützen, eine Mauer um sich herum errichtet. Menschen, die im jungen Alter ihre beiden Eltern verloren, haben zur Sicherheit um diese Mauer noch eine Mauer aufgebaut. Das Fehlen vertrauter Ankerpunkte in ihrem Leben macht Menschen, die im jungen Alter beide Eltern verloren haben, in einem späten Trauerprozess besonders verletzbar.

 

25.12.2019 Vincent van Gogh im Museum Barberini in Potsdam

Meine wunderbare Cousine Corien wohnt auf der niederländischen Insel Texel. Sie vermietet dort Ferienhäuser in den Dünen. Zudem malt sich auch noch sehr schöne Naturbilder. Wenn sie wieder mit einem neuen Bild angefangen hat, veröffentlicht sie auf facebook (Corien Groenendijk) zwischendurch Fotos, die zeigen, wie sie mit ihrer künstlerischen Arbeit weiterkommt (oder auch nicht). Ich bewundere sie um ihren Mut, mit dem sie so offen zeigt, wie sehr sie in ihrem Schaffungsprozess immer wieder verzweifelt ringt. Was für eine inspirierende und kreative Art, mit der eigenen Zweifel umzugehen!

Auch meine Texte sind oftmals noch nicht fertig. Darum lohnt es sich, sie immer mal wieder zu lesen. Sie wachsen und verwandeln sich im Laufe der Zeit.

 

05.12.2019

Im Zweifelsfall

Oftmals sind es die kleinen Dinge, die eine große Bedeutung bekommen. In Ein Loch in meiner Seele geht es auch über Zweifel. Über die Zweifel, die uns spät Trauernden davon abhalten, das zu verfolgen, was wir tief in uns als Leben(sinhalt) verspüren. Über die Zweifel an unserer eigenen Daseinsberechtigung. Zweifel ist ein Überlebensmuster, der einen immer wieder umwirft. Wenn Du denkst: ´Das gelingt mir nie´, dann erinnere Dich, wie viel (Widerstands-)Kraft Du immer wieder zum Überleben hervorgebracht hast. Das ist Dir gelungen. Diese Kraft hast Du. Das hast Du bewiesen. Unser Rat im Zweifelsfall: Tu es doch!

Diese wenigen Worte sind bei mir hängen geblieben. Wie ein Mantra verfolgen sie mich schon seit Monaten. Tu es doch! Du weißt nicht, was daraus wird, wohin es Dich führt. Es wird sicher anders als Du erwartest. Aber es öffnet Türen zum Unerwarteten, zu Deiner Lebendigkeit. Die Dinge kommen dadurch in Bewegung. Du kommst dadurch in Bewegung. Für mich bedeutet das auch, dass ich mit meinen Zweifeln weniger zu kämpfen brauche. Die Zweifel bleiben, aber ich tue es trotzdem. Das ist nicht so einfach, wie es sich anhört. Tu es doch!

 

04.12.19

Kleiner Bruder und großer Bruder

Es gibt viel zu entdecken in der Welt der späten Trauer. Manches kommt unerwartet. Oftmals, nachdem wir über viele Jahre nach Erklärungen gesucht haben. Warum und wie wir so geworden sind, wie wir sind. Warum die Dinge so gelaufen sind, wie sie gelaufen sind. Erklärungen die uns, im Grunde genommen, doch nicht viel weiter gebracht haben. Die uns nicht freier gemacht haben. Und dann gibt es diese Momente, in denen Einsichten wie in einer Wolke erscheinen. Eine Wolke, die sich plötzlich in viele Richtungen öffnet. In der wir spüren, wie wir verwandelt werden, noch bevor wir wirklich überschauen, was mit uns passiert. In dem alles, was wir bis dahin bearbeitet haben, sich plötzlich fügt und zu etwas Spürbaren wird und uns bewegt. Zum Beispiel, wenn unerwartet die Bindung zu unseren verstorbenen Eltern wieder lebendig wird. Wenn wir die Reichweite, von dem, was uns als Kind passiert ist, verstehen. Wenn wir die Milde zu uns selbst finden und uns selbst verzeihen. Wenn wir unsere Wurzeln wieder spüren. Wenn wir uns, wie vom Zauberhand, reicher und freier fühlen. Manches ist anfangs vielleicht erschütternd, verwandelt sich dann jedoch ziemlich bald in ein warmes Gefühl des Heimkommens.

Es gibt jedoch auch Entdeckungen, die schmerzhaft sind und das vielleicht auch noch eine lange Zeit bleiben. Die uns auffordern, uns bewusst unseren Schattenseiten (*siehe den Buchtip am Ende dieses Textes) zu stellen. Zum Beispiel, wenn uns klar wird, wie aus dem frühen Verlust unserer Mutter oder unseres Vaters Schutzmechanismen entstanden sind, die bis heute unsere Beziehungen belasten und einschränken.

In 2013 wurde bei meinem  jüngeren Bruder Krebs diagnostiziert. Schon beim ersten Arzttermin wurde ihm erzählt, dass es keine Hoffnung auf eine Heilung gab. Dass die Therapie nur darauf ausgerichtet sein würde, ihm seiner noch verbleibenden Zeit so erträglich wie möglich zu machen. Wie lange? Ein halbes Jahr vielleicht. Er rief mich noch am gleichen Tag an. Das Gespräch werde ich nie vergessen. An irgendeinem Punkt sagte ich ihm: ´Ach Brüderchen, was für eine Scheißfamilie. Erst Papa, dann Mama und jetzt du. Dann bleibe ich also alleine übrig.´ Wir weinten beide.

Er hat noch ein Jahr gelebt. In dieser Zeit war ich jede vierte oder fünfte Woche in den Niederlanden bei ihm und seiner Familie. Anfangs haben wir die Sachen gemacht, die uns beiden so wertvoll waren. Wie waren im Reichsmuseum und haben uns Kunst angeschaut. Kunst stand in unser beider Leben sehr zentral und darüber tauschten wir uns gerne aus. Das verband uns. Im Laufe der Monate, als er schwächer wurde und mehr litt, waren unsere Begegnungen für mich in zunehmendem Maße sehr schmerzhaft. Ich spürte in mir eine immer größere Distanz und einen unterdrückten Frust. Das führte dazu, dass auch der Kontakt mit seiner Familie schwieriger wurde. Es gipfelte in seiner Beerdigung, in der ich – als sein einziger Bruder – keinen wesentlichen Platz fand. Am Tag nach der Beisetzung flog (und flüchtete) ich direkt nach Mallorca, um dort 14 Tage Urlaub zu machen. 2 Jahre lang habe ich eine riesige Wut mit mir herum getragen und mir vor Unverständnis und Frust die Augen aus dem Kopf geweint. Warum habe ich, trotz dieser wiederkehrenden Begegnungen in diesem letzten gemeinsamen Jahr, nicht das Gefühl, mich von ihm wirklich verabschiedet zu haben. Warum entfremdeten wir uns so? Ich fragte mich immer und immer wieder, was dort falsch gelaufen war. Was hätte ich anders oder besser machen müssen? Wie konnte ich so versagen? Erst jetzt, beim Schreiben dieses Textes, entdeckte ich, dass die Antworten nicht in der damaligen Situation zu finden waren. Nicht in diesem einen besonderen Jahr, sondern in einer Zeit, viel, viel weiter zurück. Die Zeit, in der mein kleiner Bruder und ich unseren Vater und etwas später auch unsere Mutter verloren. Noch nie sah ich so klar, was ich mir zwar in all diesen Jahren gedacht hatte, aber was mich nie wirklich erreicht hatte. Dass es wirklich die Vergangenheit war, die um Anerkennung schrie. Um Integration in meinem Jetzt. Wie gerne hätte ich diese Entdeckung früher gemacht und damals mit meinem kleinen Bruder geteilt.

Wenn wir uns in unseren engen Beziehungen oft unzulänglich fühlen. Wenn uns Nähe oft Probleme macht. Wenn wir mit Problemen in unserer Nähe nicht umgehen können. Wenn wir es nur schlecht oder überhaupt nicht ertragen können, wenn eine Person, die uns nah ist, krank ist oder voller Sorgen. Wenn wir uns sofort schuldig oder verantwortlich fühlen, wenn sie oder er leidet, aus welchem Grund auch immer. Wenn wir dann auf Distanz gehen. Wenn uns unsere eigenen Gefühle in Beziehungen nicht klar sind. Wenn wir nicht an dem Wesentlichen in unseren Beziehungen heran kommen oder sie sogar immer wieder abbrechen. Steckt dann vielleicht etwas Altes dahinter? Etwas aus einer ganz anderen Zeit? Wie war es für uns, als unsere Mutter oder unser Vater schwer erkrankte. Vielleicht lange zu Hause lag oder mit dem Krankenwagen abgeholt wurde? Als wir sie oder ihn im Krankenhaus besuchten? Als sie oder er uns ihre oder seine große Liebe nicht mehr geben konnte? Als dieser vermeintlicher Liebesentzug uns als Kind das Gefühl gab, etwas falsch zu machen? Als wir vielleicht innerlich auf Distanz gingen, weil unsere Mutter oder unser Vater nicht mehr so war, wie wir sie oder ihn kannten? Als wir die Nähe im Sterben nicht ertragen konnten? Als wir nach ihrem oder seinem Tod das tiefe Gefühl hatten, versagt zu haben. Irgendwie schuldig zu sein.

Und wie war es für uns als Kind ohne Mutter oder ohne Vater? Wie war das zu Hause? Mit unserer zurückgebliebenen Mutter, unserem zurückgebliebenen Vater? Als auch unsere zurückgebliebene Mutter oder unser zurückgebliebener Vater nicht mehr so war, wie früher? Als wir spürten, wie sie oder er litt. Fühlten wir uns als Kind irgendwie verantwortlich für all dieses Leiden in unserer Familie? Schuld, Verantwortung, Distanz, unfähig den Schmerz auszuhalten, zuzulassen, zu teilen, zu verarbeiten. Oder das Zusammenleben mit unseren Pflegeeltern? Das nie wirklich funktionierte.  Egal wie viel wir unser Bestes gaben?  Egal wie viel wir und anpassten? Wie war das für uns in der Schule? Wenn unsere Schulfreundinnen und Schulfreunde von ihren Eltern erzählten, vom Wochenende, von den Ferien? Schämten wir uns dafür, dass wir keine Mutter, keinen Vater oder überhaupt keine Eltern mehr hatten? Konnten wir noch frei und unbeschwert Teil unseres Freundeskreises sein? Oder fühlten wir uns vielleicht doch anders, belastet, ein Außenseiter? Wenn deine engsten Bindungen im Kindesalter oder als Jugendlicher so unfassbar schmerzbeladen waren, soviel inneres Chaos hervorriefen, ist es dann ein Wunder, wenn das auch später so ist? Wenn dir ungezwungene und spontane Nähe oftmals so schwer fällt, dich so erschöpft? Wenn du dich belastet fühlst durch alte Beziehungsmuster?

Das hier ist kein leichtes Thema. Es sind unsere Schattenseiten. Sie fragen um Aufmerksamkeit, Ehrlichkeit, Geduld und Mut. Und vor allem um Milde uns selbst gegenüber. Es ist aber sicher auch ein Wunder, dass durch die Späte-Trauer-Arbeit nicht nur das Jetzt, sondern auch zugleich die Vergangenheit sich heilen können. In dem Sinne ist auch die Vergangenheit sehr viel offener und beweglicher als wir jemals vermuteten. Vielleicht nicht sofort, aber innerhalb absehbarer Zeit!

(*) Ein wunderbares Buch über die Arbeit mit unseren Schattenseiten ist ‘Schattenarbeit’ von Debbie Ford. Es begleitet mich schon seit vielen Jahren.

 

19.11.2019

Vater und Sohn

Mein Vater war ein ´einfacher´ Tischler. Er starb als ich 10 Jahre alt war. Erst mit 40 entdeckte ich eine Serie Dias von ihm. Die künstlerische Qualität dieser Aufnahmen hat mich umgehauen. Kannte er vielleicht die Filme von Federico Fellini? Gab es diese damals überhaupt schon? War es sein geschultes Tischlerauge, das ihm diesen Blick für Situationen gab? Das Bild hier ist mein Lieblingsfoto. Ich bin der kleine Junge ganz rechts und sind das Vater und Sohn dort auf dem Trödelmarkt in Spanien?

Ein wichtiger Teil in Deinem späten Trauerprozess ist die Wiederentdeckung deiner verstorbenen Mutter oder deines verstorbenen Vaters. Für mich sind diese Fotos ein Schlüssel zu meinem Vater. Hat er mich geliebt, als er dieses Fotos machte? War er tief in sich ein Träumer (so wie ich)?

 

08.11.2019

Üblicherweise wird uns erzählt, dass wir unsere Komfortzone verlassen sollten, um im Leben weiter zu kommen.
Jedoch… Das mit der Komfortzone ist bei Erwachsenen, die in ihren jungen Jahren einen Elternteil oder beide Eltern verloren haben, so eine Sache. Was machst Du, wenn Du schon als Kind aus Deiner Komfortzone gefallen bist? Dann geht der Weg nach vorne nur, wenn Du den Weg zurück in Deine Komfortzone findest. Ganz schön kompliziert!
Über diese ´umgekehrte´ Richtung findest Du mehr in ´Ein loch in meiner Seele´.
 

03.11.2019

Der einsame Weg

Es waren vielleicht nicht mal 100 Meter. Dieser Weg. Herbst 1975. Ich erinnere mich an nahezu nichts mehr aus der Zeit und vielleicht habe ich auch dieses Bild im Nachhinein konstruiert. Es ist schon so lange her. Nichtsdestotrotz ist dieser Weg für mich ein Sinnbild für alles, was danach gekommen ist.

Mein kleiner Bruder und ich gingen vorn. Links und rechts und hinter uns so viele nahe und ferne Verwandten, so viele bekannte und weniger bekannte Freunde der Familie. Nur dass es jetzt keine Familie mehr gab. Nichts. Ein vakuum. Alle sind in Schwarz. Alle sind Erwachsene, denn Kinder gehörten nicht auf so eine traurige Veranstaltung. Außer wir natürlich, mein kleiner Bruder und ich.

Ich war erstarrt. Irgendwo verloren, bloß nicht hier. Getrennt von meinen Gefühlen, die nicht mehr Teil von mir waren und getrennt von der äußeren Welt, die nicht mehr meine Heimat war. Nicht im Stande, den Anwesenden in die Augen zu sehen. Und das, während mein kleiner Bruder und ich an diesem Tag doch für alle im Mittelpunkt ihres Mitgefühls standen. Ringsherum das knirschende Geräusch so vieler Füße auf diesem Schotterweg. (Wer denkt sich so einen Belag für einen Friedhof aus?) Der Pfad von der Hauptpforte zum geöffneten Grab meines Vaters. Dort, wo jetzt auch meine Mutter beigesetzt wurde.

Hat das alles auf diesem Schotterweg angefangen? Ist es das, was auch ich noch immer mit mir herumtrage?

Ich habe mir überlegt, an dieser Stelle ein Foto von William und Harry zur Beerdigung ihrer Mutter Diana zu verwenden. Ich mache es nicht. Ihr alle kennt die Bilder und sie wären hier wahrscheinlich eine Plattitüde. Und trotzdem, diese Aufnahmen zeigen alles! Die gemeinsame Trauer in der jeder in und für sich zutiefst einsam ist.

Spät-Trauernde können auf einer ganz tiefen Ebene sehr einsam sein. Ihre frühen Erfahrungen sind Teil ihres Daseins geworden. Sie haben das Gefühl, anders zu sein. Abgetrennt von den anderen und vom Leben. Der Umgang mit anderen scheint ihnen manchmal wie ein Theaterspiel, obwohl sie es doch so ernst meinen.  In ihnen ist so viel, was sie selbst nicht richtig verstehen und auch nicht teilen können (oder dürfen). Natürlich möchten sie auch dazu gehören. Entfremdet von sich selbst identifizieren sie sich darum vielleicht mit Idealen und haben trotzdem das Gefühl, nicht näher an sich selbst heranzukommen. Sie haben eine tiefe Sehnsucht nach ihrem wirklich eigenen Lebensgefühl. Sie möchten fühlen, dass sie leben.

Es ist unser ureigenes Geburtsrecht, die Erde mit unseren Füßen zu spüren. Uns auszudrücken. Uns selbst zu gestalten, auszuprobieren, zu entdecken. Der Weg dahin führt nach innen und nach außen. Es ist ein Heimkommen zu uns selbst und in unser Leben. Nur wir selbst können diesen Weg angehen, uns trauen. Das ist nicht einfach. Das geht nicht von heute auf morgen. Aber jeder noch so kleine Schritt lohnt sich. Späte-Trauer ist nicht die einzige Unterstützung, die es auf diesem Weg zu finden gibt. Jedoch… Sie kann dabei eine große Hilfe sein, weil sie so viel Wiedererkennung bringt im Austausch mit anderen. Weil sie so genau benennt, was so viele andere Spät-Trauernde erlebt haben. Weil wir entdecken können, dass wir mit unseren Verlusterfahrungen nicht alleine sind. Weil wir auch in dem, was das mit uns gemacht hat, nicht alleine sind.

 

16.10.2019

Geteilte Freude ist doppelte Freude: Die Druckdatei für ´Ein Loch in meiner Seele – Späte Trauer bei Erwachsenen, die im jungen Alter ihre Eltern verloren haben´ ist gestern zum Verlag geschickt worden! Ich erwarte die erste Büchersendung kurz nach dem Wochenende. Es war ein langer Weg mit vielen Hürden und es hat sich gelohnt. Für mich ist es ein Geschenk, so ein Buch in die Welt setzen zu dürfen. Wie viele Leser wird es erreichen und was wird es in ihrem Leben bewirken?

Sobald die ersten Exemplaren zum Versand da sind, mache ich es hier und auf Facebook unter Bert Pekelder bekannt

´Mein Gott! Wenn du jemandem ein Buch verkaufst, dann verkaufst du ihm nicht lediglich 400 Gramm Papier und Tinte und Leim – du verkaufst ihm ein ganz neues Leben. Liebe und Freundschaft und Humor und Schiffe nachts auf dem Meer – ein Buch is voller Himmel und Erde. Ich rede von einem wahren Buch.´

Christopher Morley, 1890-1957, Herausgeber und Schriftsteller

 

29.09.2019

Whaam! Gabuumm! Zatosch!

Die Inspiration und der Titel für diesen Text stammen aus einem Artikel von Holger Kreitling in Die Welt  vom 12. November 2018.

Ich habe mein ganzes Leben nach einer Vaterfigur gesucht, nach einem Bezugspunkt, nach Helden. Vielleicht weniger nach den Helden, um die es hier geht, sondern eher nach Heiligen, Gurus, Lehrer, Künstler und Denker. Hat das mit den Verlusten in meiner Kindheit und meiner Jugend zu tun? Ich denke schon. Ist diese Geschichte meiner späten Trauer angemessen? Auf jeden Fall ist sie Ausdruck meiner Suche nach jemandem, nach etwas, mit dem ich mich identifizieren konnte.

Stan Lee

Stan Lee, alias Excelsior, ist tot. Er starb am 12. November 2018. Bis vor Kurzem kannte ich ihn nicht. Er arbeitete für Marvel Comics und war der Schöpfer von Spider-Man, Hulk, Iron Man, Silversurfer und vielen anderen Comicfiguren. Mein Jugendheld war Batman, der war eine Kreation von Bob Kabe und Bill Finger. Als ich acht oder neun Jahre alt war, litt ich des Öfteren unter einer Stirnhöhlenentzündung. Meine Mutter kaufte mir als Trostpflaster ein Batman-Comicheft. Damit saß ich dann im Wartezimmer des HNO-Arztes. Eine Betäubungswatte in meiner Nase und erstarrt vor Angst. Ich wusste, er würde mir gleich mit einer hohlen Nadel in die Nase bohren. Wie gerne wäre ich zusammen mit Batman weg geflogen. Als kleiner Junge war er in eine Grube voller Fledermäuse gestürzt. Deshalb hatte er jetzt eine Phobie. Das Wort kannte ich damals noch nicht, aber ich verstand, worum es ging. Außerdem waren seine Mutter und sein Vater vor seinen Augen ermordet worden. Das war besonders schlimm für ihn. Auch das Wort Trauma war mir in der Zeit noch unbekannt. Wie hätte ich wissen können, dass auch meine beiden Eltern in den darauffolgenden Jahren sterben würden? Über meine Helden und über meine eigene Heldenrolle geht diese Geschichte…

Lese mehr darüber, wie es weiter geht, in: Ein Loch in meiner Seele von Titia Liese und Bert Pekelder. Unser Buch erscheint in 2 Wochen.

 

08.09.2019

Mein 16. Geburtstag im Garten. Ganz rechts sitze ich. Zwei Monate später war meine Mutter tot.

Nach dem Tod meines Vaters war ich mit 15 Jahren viel zu früh gezwungen, erwachsen zu werden.

Marius Müller-Westernhagen, 1948- , Musiker.15 Jahre alt, als er seinen Vater verlor.

Pubertätsschmerz

Für viele Eltern, nicht nur für Spät-Trauernde, ist die Pubertät, durch die ihre Kinder gehen, eine sowohl spannende, als auch fesselnde und zugleich schwierige Zeit. Aber bei Spät-Trauernden spielen noch andere Themen eine Rolle. Diese können den großen Prozess des Losmachens, des Loslassens und des Sichneubindens ihrer Kinder zusätzlich erschweren.

Es kann Ihnen als Mutter oder Vater und damit auch Ihren Kindern helfen, wenn Sie sich der Themen, die Ihre späte Trauer betreffen, bewusst werden. Sie verstehen sich dadurch selbst und Ihr eigenes Verhalten besser und können dafür mehr Eigenverantwortung übernehmen. Damit können Sie Ihre Haltung Ihren Kindern gegenüber ändern. Und im Prozess, durch den Ihre Kinder gehen, wiegt Ihr eigenes Gepäck, das Sie durch die späte Trauer mit sich herumschleppen, dann weniger.

Der überwiegende Teil der Spät-Trauernden war, bevor ihre Mutter oder ihr Vater starb, normal und sicher gebunden. Dadurch hatten sie die Möglichkeit, die Fähigkeit des Bindens zu lernen. Doch was sie meistens nicht gelernt haben, ist, sich sicher zu lösen. Der Einschnitt des unumkehrbaren Verlusts der Mutter oder des Vaters, der Verlust der ursprünglichen Sicherheit, die daraus resultierende Unsicherheit, die vielen Folgeverluste und die strukturellen Veränderungen haben das Vertrauen des damaligen Kindes zutiefst beschädigt. Spät-Trauernde haben in den meisten Fällen nicht gelernt, sich auf eine sichere Art und Weise zu lösen. Das hat zur Folge, dass viele Spät-Trauernde eine tiefe Angst vor dem Loslassen verspüren. Der Pubertätsprozess des eigenen Kindes kann Ihnen als Spät-Trauernde dann auch eine große und tiefe Angst bereiten. Eine Verlustangst.

Spät-Trauernde haben in vielen Fällen keinen gesunden, positiven, identitätsbildenden Pubertätsprozess durchlebt. Sie haben in ihrer eigenen Pubertät diesen wichtigen Prozess des Losmachens, des Loslassens und des Sichwiederbindens verpasst. Es gab keine vertraute Familienstruktur mehr, von der sie sich auf eine sichere Art und Weise lösen konnten. Es gab keinen Platz mehr, wo sie bedingungslos sein konnten. Es gab keine Mutter, keinen Vater oder beide Eltern nicht mehr, mit denen sie ausfechten konnten, wer sie waren. Was sie konnten. Was sie nicht konnten. Was sie wollten. Was sie nicht wollten. Für Spät-Trauernde, die selbst mit ihrer Pubertät keine guten und gesunden Erfahrungen gemacht haben, kann es darum zusätzlich kompliziert und schwer sein, eine Pubertierende oder einen Pubertierenden durch die Pubertät zu lotsen.

Auszug aus ´En Loch in meiner Seele´ – Späte Trauer bei Erwachsenen, die im jungen Alter ihre Eltern verloren haben. Das Buch erscheint im Oktober 2019.

 

29.08.2019

Wie ein Fisch im Wasser – über die Kultur deiner Herkunftsfamilie

Als ich mich im Rahmen der Veröffentlichung von Ein Loch in meiner Seele bei Facebook anmeldete,  benutzte ich als Titelbild ein Foto von meiner Mutter, meinem Vater und mir (auf dem Schoß meiner Mutter). Innerhalb weniger Tage reagierten meine Cousinen und Cousins mit berührenden Erinnerungen an unsere Familie. Vieles davon war völlig aus meinem Gedächtnis verschwunden. 

Dass der junge Verlust der Eltern einen Krater schlägt und ein Loch hinterlässt, wird fast jeder verstehen. Aber was ist mit der verlorenen Kultur deiner Herkunftsfamilie? Wer versteht schon, dass die ganze Welt, in der du aufwuchst, sich änderte? Der Boden auf dem du lebtest; die Luft, die du atmetest; das Wasser, das du trankst; die Gerüche, die Klänge, die Temperatur, das ganze zwischenmenschliche Klima, das dich umgab; die Sprache, die du hörtest und gerade zu sprechen lerntest; die körperlichen Umgangsformen, der Bewegungsraum und die Art, dich selbst zu bewegen; die Interessen, die Bücher und die Urlaubspläne, über die am Tisch gesprochen wurde; das, was wichtig und das, was unwichtig war; das, was erlaubt und nicht erlaubt war; das, was gefühlt, gedacht und geglaubt wurde und das, was nicht erlaubt war, zu fühlen, zu denken und zu glauben.

Ein Kind lebt nicht nur in seinem Umfeld, es ist sein Umfeld. Erst allmählich entwickelt sich daraus die eigene Identität. Ein Kind ist wie ein Fisch im Wasser. Weiß der Fisch vom Wasser? Sind der Fisch und das Wasser nicht eins? Was passiert, wenn der Fisch vom offenen Meer in einen schlammigen Teich geworfen wird (so, wie bei meinem Bruder und mir)? Überlebt er das? Wie schafft er es, zu überleben? Und wir? Passten wir uns an? Konnten wir unsere eigene Identität entwickeln?

 

19.08.2019

über (Über-) Leben

Späte Trauer geht nicht nur darum, dass du über den Tod deiner Mutter, deines Vaters oder deiner beiden Eltern noch trauern musst. Es geht viel mehr darüber, was du dadurch und danach verloren hast. Die Kultur deiner Eltern, die Selbstverständlichkeit des Lebens, deines eigenen Lebens. Dein Leben wurde vom Leben zum Überleben. Wenn du als Erwachsener anfängst, die Reichweite davon zu verstehen, kann in kürzester Zeit sehr viel in Bewegung kommen. Dein Überleben kann wieder zum Leben werden.

Mein persönlicher Weg vom Überleben zum Leben: Am Diedamskopf in Österreich vor der Sonne und unter meinem grünen Schirm. Dank Kälte ging es mir nicht wie Ikarus!

Es kann Deines Schöpfers Wille nicht sein, Dich, Ersten der Schöpfung, dem Staube zu weih´n, Dir ewig den Flug zu versagen!

Otto Lilienthal, 1848-1896, Luftpionier, 13 Jahre alt, als sein Vater starb.

 

01.08.2019

Eine Buchempfehlung

Giger-Bütler, Josef: ´Jetzt geht es um mich´ Die Depression besiegen – Anleitung zur Selbsthilfe. Beltz Verlag 2010, Weinheim und Basel.

Die Bücher von Josef Giger-Bütler entdeckte ich auf einer Forumseite für Gleitschirmflieger. In dem Chat ging es um Depressionen. Ein Thema, das unter Gleitschirmfliegern wohl sehr selten besprochen wird. Ich vermute, dass so einige Extremsportler mit dieser Seite des Lebens zu ringen haben. Kurz vor Weihnachten 2015 hatte sich Pierre Bouilloux, einer der großen Gleitschirmpioniere, das Leben genommen. Ein Chat-Teilnehmer schrieb, die Depression sei nur eine gestörte Gehirnstoff-wechslung, eine Störung der Neurotransmitter. Hierfür gäbe es heute sehr gute Medikamente, weitgehend ohne Nebenwirkungen. Darauf antwortete ein anderer Teilnehmer, dass diese Ansicht zu eng ist. Er erwähnte den Analytiker Josef Giger-Bütler. Sein Ansatz ist, dass depressive Menschen unter Druck ihres Ich muss statt Ich will leben und dadurch auf einer tiefen Ebene von sich selbst getrennt sind. Das hörte sich für mich sehr ähnlich an wie: Ich überlebe statt Ich lebe.

Über dieses Ich muss statt Ich will, also über Ich überlebe statt Ich lebe geht es auch in Jetzt geht es um mich. Dieses Buch ist einzigartig, nicht vergleichbar mit irgendeinem anderen Buch, das ich bis jetzt gelesen habe. Es ist eine Reise zu sich selbst. Eine Reise an der Hand eines sehr liebevollen, geduldigen Begleiters. Es ist voller Empathie und Weisheit und belehrt niemals. Es zeigt, dass wir uns auf dieser Reise nicht unter Druck setzen müssen. Es ist gerade diese innere Haltung des Müssens, die uns im jungen Alter auferlegt worden ist. Eine Überlebensstrategie, die wir uns nach dem Verlust unserer Mutter, unseres Vaters oder unserer beider Eltern vielleicht auch selbst auferlegt haben. Dieses Buch erlaubt uns, nur das zu tun, wozu wir uns im Moment imstande fühlen. Die Zeit zu nehmen, die wir brauchen. Nichts zu tun, wenn nichts geht, im Vertrauen, dass auch (gerade) dann viel passiert. Uns kleine Schritte zu erlauben.

Josef Giger-Bütler schreibt nicht über den frühen Verlust von Eltern. Spät-Trauernde haben jedoch oftmals auch mit Depressionen zu kämpfen. Sie fragen sich oftmals verzweifelt, wie sie anfangen können zu leben, statt immer nur zu überleben. Dieses Buch handelt von diesem (Über-)Lebensweg. Es kann zu einem Begleiter werden, den wir immer und überall mit uns mitnehmen und immer und immer wieder aufs Neue lesen können auf unserer Reise zu uns selbst.

 

05.04.2018

Pommesbude

Ich war gestern wieder in Rozendaal. Der Ort, wo ich geboren bin und als Kind und Jugendlicher meine glücklichsten Jahre hatte. Wenn ich in den Niederlanden bin, schaue ich dort immer vorbei. Ich spüre dort meine Wurzeln. In Velp, wo ich zur Schule ging, stand ich vor der Pommesbude in der Hauptstraße. Meine Schulkameraden und ich kauften dort in der Schulpause oft unsere Pommes mit Mayo. Eine große neue Gedenktafel an der Fassade überraschte mich: ´Seit 1958´. Das ist mein Geburtsjahr! Dieses Jahr gibt es ein sechzigjähriges Jubiläum. Genau wie bei mir. Komischerweise gab mir das Gefühl großer Verbundenheit. Mit dieser Pommesbude!

Ich fing an zu rechnen. Ich bin jetzt 60. Mein Vater wäre jetzt 114 Jahre alt gewesen und meine Mutter 97. Das traf mich wie ein Hammerschlag: Wenn sie damals nicht so früh gestorben wären, wären sie trotzdem jetzt schon längst tot. Es war ein einsames und ödes Gefühl. Mir wurde damit bewusst, dass sie jetzt so oder so nicht mehr leben würden. Bin ich dann rein rechnerisch und formell kein Waise mehr? Habe ich keinen Anspruch mehr auf mein lebenslanges Gefühl des Verlusts, des Vermissens, der Trauer, des Mitleids? Hat dann dieser kleine Junge, dieses Waisenkind in mir, keine Daseinsberechtigung mehr? Stehe ich ab jetzt alleine da? Muss ich mich jetzt von diesem innerlichen Kind verabschieden?

Irgendwie stimmt da doch etwas nicht, oder? Das Kind ist da. Es ist Teil von mir und es möchte das auch für immer bleiben. Egal, wie alt ich werde. Wie unsere Beziehung sich entwickelt, kann ich nicht sagen, können wir beide nicht sagen. Wir werden es zusammen herausfinden. Denn verlieren möchten wir uns beide nicht!

 

20.07.2019 

Eine Buchempfehlung

Kverneland, Steffen: Ein Freitod, Berlin, Avant-Verlag, 2019.

Der Vater, der sich für immer entzog

Ein junger Mann verliert seinen Vater – durch einen Suizid. Er geistert fortan durch seine Träume und Gedanken, ein Untoter. Erst dreißig Jahre später findet der Sohn eine berührende Sprache dafür.

Als der Comiczeichner Steffen Kverneland 18 Jahre alt war und bereits mit einer Einzelausstellung in der Lokalzeitung erwähnt wurde, setzte sich sein Vater eines Abends auf dem Gelände seiner Firma in ein Auto, lenkte die Auspuffgase in den Innenraum, trank eine Flasche Wodka und starb. Mehr als drei Jahrzehnte später, Kverneland ist inzwischen einer der bekanntesten Zeichner Norwegens, erzählt der Sohn die Geschichte seines Vaters als Bildergeschichte.

Für das autobiografische Erzählen ist die Graphic Novel eine perfekte Form; denn Erinnerungen bestehen zum überwiegenden Teil aus Bildern. Und es ist nicht ganz korrekt, dass hier die Geschichte des Vaters erzählt wird. Es ist die eigene Geschichte mit dem Vater, ergänzt und vertieft durch eine Spurensuche vorwiegend anhand von Familienfotos, die Kverneland einbaut, zum Teil auch abmalt oder übermalt.

Es sind zum Teil sehr bittere und selbstquälerische Passagen über die Unaufrichtigkeit der eigenen Trauer, die er als junger Künstler als romantische Pose gut in die eigene Rolle einbauen konnte: „Trauer wird durch Eitelkeit beschmutzt“, ist eine abgründige Erkenntnis, die dem reifen Zeichner heute als Mahnung dient. In einem großartigen doppelseitigen Panel sieht man den Zeichner einen Kinderwagen durch lediglich flüchtig skizzierte Straßenzüge schieben, ein mehrfach eingesetztes Mittel, um das Nachdenken im Comicbild zu veranschaulichen. In einem anderen sitzt er mit einem Kumpel beim Bier und stellt fest, dass er nun so alt ist wie sein Vater, als er starb.

Man muss es erst einmal hinkriegen, dass eine autobiografische Graphic Novel, in der der Künstler sich ständig in verschiedenen Lebensaltern selbst zeichnet, nicht ins Eitle und Exhibitionistische kippt. Es hat seinen Grund, dass Kverneland, der schon früher autobiografisch gearbeitet hat, sich für dieses Projekt so lange Zeit ließ.

Text von Richard Kämmerlings:

https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/plus196733591/Ein-Freitod-von-Steffen-Kverneland-Suizid-eines-Vaters.html

 

 

25.02.2019

Verarbeiten

Jeder sagt es und auch ich selbst habe es lange gedacht: ´Den Tod meiner Eltern muss ich verarbeiten.´ ´Meine schwierige Kindheit und Jugend muss ich verarbeiten.´ Aber was ist überhaupt verarbeiten? Was ist es wirklich? Was kann oder muss ich selbst dafür tun?  Gerade wir, die als Kind unsere Eltern verloren haben, setzen uns selbst oftmals so unter Druck. Wir müssen uns stark zeigen. Wir müssen es schaffen. Wir müssen also auch verarbeiten! Unser innerer Antreiber treibt uns somit zum Gesunden an,  zum Funktionieren, zum Besserwerden. Vielleicht stellt er sogar unsere tiefsten Probleme in Frage. Aber…

Dort, wo unser Hauptproblem ist; dort, wo wir am meisten unter uns selbst leiden;  dort, wo wir krank sind, da ist auch unser Schatz. Dort können wir in Berührung kommen mit unserem wahren Selbst.

Anselm Grün, aus ´Engel für das Leben´.

Unsere wirkliche Transformation kann erst dann entstehen, wenn wir unser Leiden nicht länger verdrängen, nicht länger leugnen, nicht länger verurteilen, sondern anerkennen und diesem Leiden eine Chance geben, sich uns zu zeigen und uns zu verwandeln. Verarbeitung wird zur Verwandlung. Dieser Weg ist für jeden von uns anders, einmalig. Darüber geht es in dem folgenden Text.

 

25.02.2019 

und Ich?

john coltrane verarbeitet seinen atem, um zu entdecken

alexander calder verarbeitet stahl, um leicht zu sein

pablo picasso verarbeitet fast alles, um zu erobern

der buddha verarbeitet das etwas, um nicht-etwas zu sein (oder so etwas)

das wasser verarbeitet den raum, um das meer zu sein

                                                                        

bob dylan verarbeitet sein denken, um zu singen

dan flavin verarbeitet leuchtstoffröhren und es gibt licht

luis barrágan verarbeitet mauern, um zu färben

padmasambhava verarbeitet seinen zauber für eine magie, die ich nicht verstehe

venedig verabeitet das licht und ich bin an meinem platz

 

ella fitzgerald verarbeitet melodien, um zu fliegen

charles eames verarbeitet die kreativität von ray, um selbst ein star zu sein

eric cederberg verarbeitet immer wieder den gleichen strand, um immer wieder etwas anderes zu malen

der alchemist verarbeitet blei, um gold zu sein

die berge verarbeiten sich selbst, um hoch zu sein 

 

milt buckner verarbeitet seine noten und wächst zu seiner wahren größe

john baldessari verarbeitet etwas, um etwas wegzulassen

alberto giacometti verarbeitet form, um nicht-form zu sein

reinhold messner verarbeitet das lebensbedrohliche und er lebt

die sonne verarbeitet ihre wärme, um mir die thermik zu schenken

 

helmut newton verarbeitet geschichten, um kunst zu sein

anita ekberg verarbeitet die fontana di trevi und ich bin marcello

mein kleiner bruder verarbeitet seinen tod, um bei papa und mama zu sein

hal g. verarbeitet sein nicht-sagen, um nichts zu sagen

der wind verarbeitet meinen gleitschirm und ich bin ein vogel

 

federico fellini verarbeitet seine träume, um träume zu filmen

joseph campbell verarbeitet seine helden, um ein held zu sein

wim sonneveld verarbeitet sehr elegant und ich bin wieder ein stolzer niederländer

das tao zeigt sich, um unsichtbar zu sein

die glocke verarbeitet ihren klang, um eine kuh zu sein

 

lion und wolff verabeiten ihr jüdisches deutschland und es schwingt

robert persig verarbeitet seinen wahnsinn, um zu erleuchten

gabrielle verarbeitet das waisenhaus von obasine, um coco zu sein                          

batman verarbeitet den tod seiner eltern nicht und ist mein held

und ich, was verarbeite ich, um ich zu sein?

 

27.01.2019

Eine Buchempfehlung – der Klassiker zum Thema ´Helden´

Campbell, Joseph, Der Heros in tausend Gestalten, Insel Verlag 2011, Berlin